Der Vogel, der nicht fliegen konnte

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Angst. Ein Gefühl, das ihm ganz und gar nicht fremd war. Man konnte behaupten, dass sie ihn sein ganzes Leben begleitete. Er hatte sich daran gewöhnt und redete sich stets selbst ein, dass das etwas völlig Normales war. Es gab vieles, was dieses Gefühl in ihm hervorgerufen hatte, doch dieses Mal war der Auslöser direkt vor ihm.

Eltern, die Menschen, die ihm Wärme und Liebe schenken sollten. Jene, die ihn durch die unbekannte Welt führen und ihm alles Wichtige über diese beibringen sollten. Doch sie weckten in ihm einzig und alleine das ekelhafte Gefühl, das mit jedem vergangenen Tag nur noch stärker wurde.

Zwar würden sie nie die Hand gegen ihn erheben, doch genauso wenig interessierten sie sich für ihn oder gaben ihm die Aufmerksamkeit, nach der er sich so sehnte. Noch nie hatte er die Gelegenheit gehabt, in den Genuss der familiären Zuneigung zu kommen. Er war noch nie glücklich, dazu hatte er noch keine Chance bekommen. Er war nur ein Kind, das ganz und gar unschuldig war.

Seine Familie lebte in armen Verhältnissen. Es reichte ihnen kaum für das tägliche Brot, und trotzdem floss das Geld meistens in Alkohol. Ehrlich gesagt hasste er den Geruch. Überall konnte man über die leeren Flaschen stolpern, die ein Beweis für ihr erbärmliches Leben waren.

Die Kleider, die er tragen musste, hatten schon bessere Tage gesehen; sie waren schmutzig und voller Löcher. Jeden Tag aufs neue musste er sich eine Beschäftigung suchen, mit der er die anderen Bewohner nicht stören durfte. In gewisser Weise konnte er nur auf sich zählen. Denn obwohl er von zwei erwachsenen Personen umgeben war, fühlte er sich immer einsam.

Zwar besaß er Flügel, ein Symbol der Freiheit, Fantasie oder auch des Sieges, doch die Freiheit wurde ihm trotzdem verwehrt. Er fühlte sich wie geerdet, konnte nicht in die Lüfte hinauf steigen und wegfliegen, wie all diese freien Vögel, die er immer so bewunderte. Und es ging hier gar nicht irgendwelche physischen Angelegenheiten oder Probleme mit seiner Spezialität. Hier ging es um sein Herz, das mit jedem Tag immer mehr die Hoffnung auf einen besseren Morgen verlor.

Es gab nur eine einzige Sache, die ihm Freude bereitete. Ein Spielzeug mit der Ähnlichkeit von Endeavor, den er bewunderte, seit er von seiner Existenz erfahren hatte. Trotz der vielen Helden war nur dieser dazu fähig, sein Herz höher schlagen zu lassen und die kindlichen Träume zu erwecken. Die, in denen er ein ebenso mächtiger Held war, der die Menschen rettete und sich an der Spitze befand.

Das Spielzeug hatte er von seiner Mutter bekommen, eine Geste, die ihn doch sehr überrascht hatte. Doch man konnte leicht erahnen, dass sie es nur getan hatten, um endlich Ruhe zu bekommen. Keigo war kein böses Kind. Eher das Gegenteil von den vielen, verzogenen Kindern, denen man täglich begegnen konnte.

Ein stilles Kind, das nie seine Unzufriedenheit äußerte, selbst dann nicht, wenn etwas nicht in Ordnung war. Was er tat, war sich mit seinem Schicksal abzufinden und weiter zu leben. Doch es gab auch Momente, in denen ihm sein kleiner, plüschiger Held nicht helfen konnte. Schließlich war dies nur ein Spielzeug, das nicht die Macht besaß, seine kleine Welt ein Stückchen besser machen zu können. Die Einsamkeit übernahm langsam aber sicher die Kontrolle über ihn.

Jedoch trat eines Tages jemand in sein Leben, der es vermochte, seine komplette Weltanschauung zu verändern. Türkise Augen waren die Ersten, die ihn voller Wärme und Faszination angesehen hatten. Gleichzeitig weckten sie in ihm neue, bis dahin unbekannte Gefühle.

Er selbst konnte nicht aufhören, diese Augen zu betrachten. Konnte nicht glauben, dass etwas so wunderschönes, so viele Emotionen enthielt. Voller positiven Gefühle, die es schafften, sein Herz zu übernehmen. Der Junge, den er gerade erst kennengelernt hatte, wurde zu der Person, die ihm half, seine Flügel zu entfalten, damit er endlich in die Lüfte steigen konnte.

Er war für ihn eine riesige Stütze. Jemand, auf den er zählen konnte, jemand, durch den er neue Gefühle und Verhaltensweisen lernen konnte. Nun war er nicht mehr der Vogel, der nicht fliegen konnte. Trotz seiner familiären Situation fühlte er sich endlich frei. Die Angst verschwand.

Jeden Morgen stand er mit großer Begeisterung auf, nur um diesen Jungen treffen zu können. Sie waren durch ein starkes Band miteinander verbunden. In gewisser Weise waren sie sich ähnlich. Als sie sich fanden, fanden sie auch das Glück und Keigo lächelte zum allerersten Mal offen und ehrlich. Die türkisen Augen gaben ihm Hoffnung und der Besitzer dieser Augen wurde sein Freund. Sein erster, wirklicher Freund, der ihn zum Lächeln brachte ...

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