Kapitel 3

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Ich war der festen Überzeugung, mir das alles nur einzubilden. Ich habe vermutlich einfach zu viele Horrorfilme gesehen. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen, lehnte mich an die kühle Wand und probierte meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen, aber ein lauter Schuss und der Schrei eines kleinen Kindes holten mich schlagartig zurück in die Realität.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und blickte um die Ecke. Ein eiskalter Schauer durchlief meinen gesamten Körper, als ich das Mädchen auf dem Boden liegen sah, umgeben von einer großen Blutlache. Das alles wirkte so surreal, aber doch so echt. Ich spürte wie sich meine Haare auf meinen Armen aufstellten und mein Herz immer schneller schlug, als ich mich dem Mädchen näherte. Von dem Mann oder sollte ich Mörder sagen, war weit und breit keine Spur, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Er muss vermutlich den Flur weiter geradeaus durchgelaufen sein, um in den Westflügel zu gelangen. Für einen Wimpernschlag hatte ich mich von dem Mädchen abgewandt, richtete jetzt aber wieder meine volle Aufmerksamkeit auf sie. Vor ihr warf ich mich auf den Boden und hoffte inständig, dass sie noch Leben würde. Mit meinem Zeigefinger und Mittelfinger suchte ich vergeblich nach ihrem Puls. Ich saß mitten in dem Meer aus Blut und probierte krampfhaft durch eine Herzrhythmusmassage sie wieder zu mir zu holen. Leider ohne jeglichen Erfolg. Ihr Körper lag immer noch regungslos vor mir. Völlig erschüttert mit glasigen Augen ließ ich mich gegen die Wand fallen und glitt mit meinem Körper bis auf den Boden. Meine Beine hielt ich mit meinen blutverschmierten Armen fest umklammert und unterdrückte die Tränen, die ihren Weg nach draußen suchten. Erst jetzt realisierte ich in welcher Situation ich mich befand. Bei dem Mann, den ich verfolgt habe, handelte es sich um einen Amokläufer. Wie von einer Tarantel gestochen richtete ich mich auf und probierte zwanghaft einen klaren Gedanken zu fassen.Jetzt war keine Zeit dafür, um sich unnötig Gedanken zu machen und in einen immer tiefer werdenden Strudel zu versinken. Ich durfte nicht zulassen, dass dieser Irrer noch mehr Menschen ermordet. Ich musste ihn aufhalten und dringend Hilfe rufen. Mit meiner rechten Hand griff ich in meine Hosentasche und wollte mein Handy herausfischen, um die Polizei zu alarmieren, aber da war nichts. Flüchtig tastete ich beide Taschen meiner Jeans ab, wurde aber leider nicht fündig. Manchmal könnte ich mich echt selbst ohrfeigen. Ich muss es vermutlich heute Morgen in all dem Stress auf dem Küchentisch liegen gelassen haben. Wie sollte ich nun Hilfe rufen? Mit einer Brieftaube oder Rauchzeichen? Dass ich in dieser Situation noch Witze reißen konnte, überraschte mich.

Im nächsten Augenblick fiel mir ein, dass ich vom Sekretariat aus Hilfe rufen könnte. Noch bevor mein Kopf diesem Vorschlag zustimmen konnte, trugen mich meine Beine Richtung Treppe. So schnell ich konnte rannte ich die Stufen herunter und ließ dabei die ein oder andere Stufe aus, was mich zwar manchmal ins Straucheln brachte, mich aber deutlich schneller unten ankommen ließ. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich blendete alles um mich herum aus, ich hatte nur noch mein Ziel vor Augen. Vor dem Lehrerzimmer bog ich rechts in den schmalen Gang ab, in dem einige Werke des Kunstunterrichts standen, normalerweise schaute ich mir diese gerne an, aber in diesem Moment würdigte ich sie keines Blickes. Vor der Tür des Sekretariats blieb ich stolpernd stehen und stieß einen hörbaren Atemzug aus. Ich erhob meine Hand und ballte sie zu einer Faust, um an der Tür zu klopfen. Keine Reaktion. Ich klopfte erneut, dieses Mal deutlich energischer, sodass sich ein leichter Schmerz durch meine Hand zog. Ich legte meine Manieren beiseite und fällte den Entschluss, die Tür selbst zu öffnen, ohne wie üblicherweise von der freundlichen Sekretärin hereingebeten zu werden. Erst als ich mit meiner Hand die Türklinke umfasste, merkte ich, wie sehr ich am ganzen Leibe zitterte. Ich drückte die Klinke herunter und stürmte förmlich in den Raum. Ich blickte mich um, fand aber niemanden vor. Hat der Mann sie vielleicht.. Nein, nein das kann nicht wahr sein.

Ich müsste die Sache selbst in die Hand nehmen. Jeder Schritt, den ich um den Tresen herum machte, fiel mir schwer. Es fühlte sich so an, als wären Tonnen schwere Metallklötze an meine Beine gebunden, die mich in den Abgrund ziehen wollten und mich mit aller Kraft abhalten wollten, das Telefon auf dem gegenüberliegendem Schreibtisch zu erreichen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt ich den Hörer mit meinen schweiß durchnässten Händen fest umklammert, wählte die Nummer der Polizei und hielt mir das Telefon fest an mein Ohr gepresst. Wenn ich normalerweise telefonierte, wickelte ich meine Finger automatisch um die Schnur, diesmal hielt ich aber mit beiden Händen den Hörer, weil er mir sonst aus den Händen gleiten und zu Boden fallen würde.

Ich hörte ein leises Summen und auf der anderen Seite der Leitung nahm eine Frau ab. Ich muss wie eine verrückte geklungen haben, als ich zunächst meinen Vor- und Nachnamen und meinen Standort an die Polizisten weiter gab und dann ohne Punkt und Komma die Situation schilderte, ohne dazwischen einmal Luft geholt zu haben. Als ich fertig war, sagte die Polizisten kein Wort. Mehrmals fragte ich ins Telefon: „Hallo, haben sie mich verstanden?" Und noch immer habe ich keine Antwort erhalten. Unwissend, wie es jetzt weiter gehen wird, schweifte mein Blick über den Schreibtisch, bis mich ein flackerndes rotes Lämpchen am Telefon misstrauisch machte. Auf dem Display des Kabeltelefons stand keine Verbindung.

Panik überströmte meinen Körper. Ich sollte Ruhe bewahren, erinnerte mich die "Keep calm and carry on" Grußkarte, die an der Wand pinnte.

Wie zum Teufel sollte ich aber Ruhe bewahren, wenn gerade ein skrupelloser Mann samt Waffe durch unsere Schule rennt und wahllos Schüler erschießt?

Fall- Wenn du fällst, dann fällst du mit dem Gedanken, dass dich niemand fängt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt