Tausende Dinge schossen mir durch den Kopf und ich überlegte krampfhaft, was ich jetzt machen soll. Ich sah einfach keinen anderen Ausweg. Es gibt berechtigte Gründe, warum mich viele Menschen abstoßend fanden und das war wohl einer. Ehe ich mich versah, rannte ich um mein Leben zur Tür des anliegenden Chemieraums. Vor der Tür bremste ich abrupt ab, riss die Tür auf und stürmte in den Raum ohne mich ein einziges Mal umzudrehen.
Ohne lange zu zögern, griff ich nach dem Lehrerstuhl, der hinter dem Pult stand und rollte ihn unter die Klinke, um die Tür zu verbarrikadieren. Sekunden, Minuten verstrichen, aber niemand versuchte sich Zugang zu verschaffen. Wartete er nur sehnlichst auf den Moment, an dem ich nicht mehr mit ihm rechnen würde, um mir dann seine Waffe an die Schläfe zu halten, um den Abzug zu betätigen? Werde ich sein nächstes Opfer sein? Ich sollte mir ein neues Versteck suchen, wenn man das hier überhaupt Versteck nennen kann.
Mit meinem Zeigefinger überfuhr ich den Rettungsplan meiner Schule, um den schnellsten Weg nach draußen zu finden. Als ich den Fachraum verlassen hatte, wollte ich nur noch eins; so weit weg von hier, wie nur möglich. Jegliche Gedanken daran, meine Mitschüler zu retten, waren verschwunden. Ich sprintete an den Biologie- und Geschichtsräumen vorbei, mit dem Blick nach vorne gerichtet, zu dem grüne Piktogramm, auf dem eine weiße Tür gefolgt von einem Pfeil und einem Männchen abgebildet waren. Ich befand mich auf der Zielgeraden und könnte in ein paar Metern den Ausgang in die Freiheit durchqueren. Mein Atem war alles andere als ein stimmiger Rhythmus.
Zum dritten Mal hob ich die Hand und ließ sie wieder sinken. Ich hasste mich dafür, dass ich ein Feigling war. Aber am meisten hasste ich, dass ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Nach einem letzten tiefen Atemzug hob ich die Hand und setzte sie um den Knauf. Die Tür aber blieb zu. Ich nahm an, dass ich zu wenig Druck angewandt hatte und es erneut mit mehr Kraft probieren sollte, aber die Tür öffnete sich keinen Zentimeter.
Es gab keine Möglichkeit die Schule zu verlassen, ich war gefangen in meinem schlimmsten Alptraum. Warum habe ich heute bloß das Haus verlassen? Ich habe schon so oft die Schule geschwänzt, weil ich mich, so sehr ich es auch wollte, nicht dazu durchringen konnte, meine schützende Seifenblase zu verlassen. Aber natürlich an dem Tag, an dem ein verrückter Amokläufer unsere Schule in Besitz nimmt und wild um sich schießt, musste ich das Haus verlassen.
Ich weiß nicht, wie lange ich vor der Tür gestanden und nach draußen gesehen hatte, bis mein Gesicht von Tränen überflutet wurde. So oft habe ich in der Öffentlichkeit meine Traurigkeit und meinen Schmerz versteckt und bin dann Zuhause förmlich in mir zusammengebrochen, weil ich einfach nicht mehr konnte. Die Last auf meinen Schultern wurde immer schwerer, bis ich ihr nicht mehr standhalten konnte und sie mich in die Knie zwang.
Aber damit war Schluss! Ich will nicht mehr das kleine verletzliche Mädchen mit der tragischen Familiengeschichte sein. Als meine Mutter noch am Leben war, gab es nur sie und mich. Ja, wir waren eine kaputte Familie, die nicht mehr zu reparieren war. Und ja, ich war schon immer etwas bröckelig, aber nichts wird mich endgültig zum Einstürzen bringen. Meine Mutter war für mich wie ein Rettungsring, der mich immer wieder aus der Tiefe meines Selbsthasses zog, aber seitdem sie nicht mehr da ist, versinke ich immer tiefer und schaffe es nicht an die Oberfläche zu gelangen. Vielleicht war es an der Zeit, dass ich selbst den Anker vom Grund ziehen müsste, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Und damit meine ich nicht mein Leben, sondern die Dinge, die mich nicht Leben ließen.
Ich erkannte mich gar nicht wieder, denn ich hatte eigentlich schon alle Hoffnung aufgegeben, aber nun sah ich da diesen klitzekleinen Funken Hoffnung. Mir soll nicht das gleiche Schicksal wie meiner Mutter widerfahren.
Man sollte nicht vor seinen eigenen Dämonen fliehen, sondern gegen sie kämpfen.
Der Amokläufer muss alle Türen verriegelt haben, damit wir nicht entkommen konnten und die Stimme in meinem Kopf fügte hinzu und er einen nach den anderen qualvoll ermorden konnte.
Voller Wut trat ich mit meinem Fuß gegen die Glastür. Ein Wunder, dass die Scheibe nicht in tausende Scherben zersplittert ist.
Mir wurde schnell bewusst, dass Wutattacken niemandem das Leben retten würden. Ich sollte Handeln, so schnell wie möglich.
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Fall- Wenn du fällst, dann fällst du mit dem Gedanken, dass dich niemand fängt.
RomantizmTrigger Warnung Nach Außen hin scheine ich zu schweigen, währenddessen aber alles in mir schreit. Von Kapitel zu Kapitel wirst du tiefer in die Gedanken eines Mädchens gerissen, die tagtäglich in ihrer eigenen Welt ums Überleben kämpft. Ihr Leben is...