69.Wie ist das als...Mensch mit dysfunktionalem Perfektionismus?

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Okay, dann stell dich doch vor:
-Hey, ich bin Amelia und hier unter dem Namen Amelia_Anderland zu finden.
Kennen wird mich wohl keiner, weil ich mich erst seit ein paar Wochen aktiv auf Wattpad bin, auch wenn auf meinem Profil "Registriert seit 2018" steht (stiller/inaktiver Leser).
Ich bin durch Zufall auf dieses Buch aufmerksam geworden und ich muss sagen, ich bin wirklich begeistert über das Projekt und die Einblicke, die jeder bringt, über die Päckchen, die jeder, sichtbar und unnsichtbar mit sich herumschleppt, um anderen zu zeigen, dass man nicht alleine ist.
Fast jeder Mensch gaukelt den anderen die heile Welt vor, weil wir Angst haben, dass unsere Schwäche gegen uns verwendet wird.
Womit wir beim heutigen Thema wären: Perfektionismus, oder besser, wann er dysfunktional wird.

Was meinst du mit dysfunktionalem Perfektionismus?
-Dazu schlüssel ich die einzelnen Begriffe auf, damit jeder versteht, was sie bedeuten.
Dysfunktional bedeutet krankhaft, fehlende oder magelnde Funktion. Perfektion bedeutet Streben nach Perfektion des persönlichen
Standarts wie Organisation und Verhalten.
Einfach ausgedrückt, man strebt danach, das beste aus sich zu machen. Dysfunktionaler Perfektionismus ist genau das Gegenteil, wenn das gesunde Streben nach Perfektion krank macht.
Es kommt wohl auf den Schweregrad, bzw. die Ausprägung an, inwieweit dysfunktionaler Perfektionismus Auswirkungen zeigt.
Ein Perfektionist kann entweder sich selbst unter den Zwang der Perfektion setzen, indem er in allem immer das Optimum für sich selbst erreichen will.
Manche Perfektionisten verlangen diese Perfektion aber auch von anderen Menschen.
Bei mir ist der selbstbetreffende Perfektionismus stark ausgeprägt, d.h., ich erwarte von mir, immer das beste Ergebnis zu erreichen, wobei ich anderen gegenüber sehr tolerant bin.

Wo bereitet dir das Probleme?
-Kurze Antwort: Überall.
Lange Antwort: Früher in der Schule. Im Job, wie auch im privaten Umfeld ist es eine große Belastung für mich, weil ich in schlechte Verhaltensmuster falle, ohne mir dessen bewusst zu werden und kann daraus nicht mehr ausbrechen.
Dazu muss man wissen, welche Auswirkungen für einen selbst, wie auch für die Umwelt durch dysfunktionalen Perfekion sichtbar werden.
Bei mir zeichnet sich das generell durch Distress, also negativer Stress aus, der sich in Symptomen wie Magenschmerzen, Herzrasen, Angstzustände, Kopfschmerzen, Autoaggression (selbstverletzendes vor Therapie Verhalten durch niedrige Toleranzschwelle) zeigt.
Psychisch zeigt es sich durch Abhängigkeit (Hunger) nach Anerkennung und Lob, niedriges bis kaum vorhandenes Selbstwertgefühl, Selbstzweifel und Selbsthass, weil man selbstgesteckte Ziele (weil sie utopisch sind) nicht erreicht oder man das Gefühl hat, dass es immer noch besser geht.
Man hat Angst vor dem Versagen und der einhergehenden Missbilligung Außenstehender (Vorgesetzter, Partner, Freunde, Familie).
Erledigung von Aufgaben sind teilweise, kaum oder nur unter großem Stress zu bewältigen und dadurch gerät man in einen Teufelskreis, der in eine Depression führt.
Ich muss hinzufügen, dass dysfunktionaler Perfektionismus keine eigenständige Erkrankung ist, sondern immer mit anderen psychischen Erkrankungen (bei mir Borderline-Persönlichkeitsstörung durch Traumen).
So viel zur Theorie.In der Praxis erkläre ich es am Beispiel "Schreiben". Ich schreibe nicht wie andere ein Kapitel nach dem anderen und verbessere es dann ein-, zweimal, sondern schreibe von einem Absatz zum anderen, lese Geschriebenes, korrigiere, lese, schreibe neu, lese, korrigiere, etc., bis ich das Gefühl habe, es passt und erst dann weiterschreibe, um beim nächsten Durchlesen wieder zu korrigieren und umzustrukturieren.
Dabei entsteht Frust, der in Stress mündet, weil man nicht voranschreitet.

Wie gehst du damit um?
-Mal gut, mal schlecht, weil die Selbstzweifel allgegenwärtig sind, wie ein Programm, das im Hintergrund immer durchläuft. Man kann es nur mittels positiv erlerntem Verhalten umgehen.
Das bedeutet, ich muss im Stande sein, zu erkennen, dass ich einen Fehlverhalten unterliege und dagegensteuern.
Das geht am besten, wenn Aufgaben in kleine Segmente aufgebrochen werden, mit einem festen Zeitplan, bis wann welches Segment erledigt sein muss, plus Puffer für Nachbesserungen, so fällt es leichter, die Deadline einhalten zu können.
Desweiteren hilft Akzeptanz, dass es die Perfektion in meinem Kopf, wie ich sie mir vorstelle, nicht gibt und ich sie nie einhalten werde.
Anerkennung und Akzeptanz von Lob und den bisher erbrachten Leistungen muss es auch geben.
Bei der dysfunktionalen Perfektion hungert man zwar nach Anerkennung, kann sie aber nicht annehmen, wenn man sie erhält, weil der Kopf sagt, sie wäre nicht verdient, da das Ergebnis nicht der Perfektion entspricht.
Worauf noch mehr Bedürfnis nach Anerkennung entsteht, in der Hoffnung, dass es dadurch gesättigt wird - was kaum oder nur für sehr kurze Zeit eintrifft.
Es fällt mir persönlich unglaublich schwer, meine Leistungen anzuerkennen und sie als (sehr) gut zu bewerten, wo jeder andere stolz wäre.

Wie ist das mit Kritik?
-Kritik habe ich mir früher sehr zu Herzen genommen, sodass ich regelrecht daran verzweifelt bin, warum ich kritisiert wurde.
Für mich war die Kritik am Objekt gleichbedeutend mit der Kritik an meiner Person. Es hat sehe lange gedauert, um zu verstehen, dass Kritik nicht gleich Kritik ist.
Mittlerweile achte ich nur noch auf konstruktive Kritik, die zur Lösung des Problems beiträgt oder mich in der Entwicklung weiterbringt.

Hast du Tipps für andere mit demselben Problem?
-Es ist schwer, anderen etwas Hilfreiches an die Hand zu geben, wenn ich selbst immer wieder am Anfang stehe, wenn es mir z.B. psychisch sehr schlecht geht.
Das wichtigste: Die Perfektion, wie es uns vorgegaukelt wird, gibt es nicht. Es gibt die Perfektion nur für dich, für den kleinen Moment, in dem du es betrachtest und zufrieden mit dem sein solltest, was du erreicht hast.
Denn alles ist in Wandel, alles verändert sich, was auch so sein muss, da die Welt ansonsten stillstehen würde.
-Große Aufgaben in kleine Segmente aufteilen mit festgelegten Rahmenbedinungen
-Zu lernen, wichtige Details von unwichtigen zu unterscheiden
-Die erbrachte Leistung anzuerkennen und zu lernen, darauf stolz zu sein, was bisher erreicht wurde
-Nur konstruktive Kritik zulassen
-Sein Selbstwertgefühl nicht von anderen abhängig zu machen, denn niemand kann es allen recht machen
Ansonsten kann ich nur anbieten, dass man bei Fragen oder Problemen mir schreiben kann.
Manchmal hilft es, wenn das Problem von außen betrachtet wird. Eine Therapie ist natürlich auch sehr hilfreich.
Da die dysfunktionale Perfektion keine Einzelerkrankung ist, sondern eine Begleiterscheinung zu einer anderen psychischen Erkrankung.

Wie geht es dir damit?
-Sehr schlecht, weil es mich in sehr vielen Lebenslagen einschränkt. Es fühlt sich an wie Treibsand ohne Entkommen.

Hat es sich schon verbessert?
-Jain. Ich habe gute Tage, dann glaube ich an das, was ich tue, bin stolz auf meine Leistungen, habe das Gefühl, nicht mehr in der Vergangenheit festzustecken und fühle mich einfach glücklich.
Dann gibt es die schlechteren Tage, z.B. beim Bewerbung schreiben, neue Aufträge annehmen oder beim Ideen, die mir schon lange im Kopf herumflattern umsetzen, dann kommen die Zweifel.
Wie soll man sich selbst bewerten oder zeigen, was man kann, wenn die innere Stimme des Selbstzweifels keine Ruhe gibt?
Ich arbeite aber hart daran, mich nicht von den negativen Gefühlen überrollen zu lassen und kann (mit ein bisschen Stolz) sagen, es wird besser.

Möchtest du sonst noch etwas sagen?
-Man muss sich bewusst werden, dass dysfunktionale Perfektion durch erlernte Verhaltensmuster aus Umwelteinflüssen (Erziehung, Mobbing, Traumaerfahrung, etc.) entsteht und man selbst keine Schuld daran trägt.
Wenn erkannt wird, woher es kommt, welche Auswirkungen es für das eigene Leben hat, ob es einen positiven oder negativen Effekt besitzt, hat man die Möglichkeit, es für sich zu nutzen oder daran zu arbeiten, damit es einen weniger belastet.
Loswerden wird man den Perfektionismus nie, daher ist es besser, zu akzeptieren, dass es ein Teil von einem ist.

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