Prolog

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"Du wirst deine Schwester zu dem Konzert von diesem Harald-Typen begleiten, hast du mich verstanden?"

Die ermahnenden Worte hätten klarer nicht sein können und doch wollte ich sie nicht verstehen. Trotzig verschränkte ich daher die Arme vor meiner Brust. „Aber Mom, er-"

„Ich diskutiere da jetzt nicht länger drüber, Madilyn." Oh Gott, sie nannte mich bei meinem vollen Namen. Es gab also tatsächlich nichts mehr, was ich dem entgegensetzen konnte. Sie hatte den Streit gewonnen. Ich verdrehte die Augen.

Meine kleine Schwester begann hysterisch zu quietschen. Augenblicklich hielt ich mir die Ohren zu. Das durfte jetzt einfach nicht wahr sein! Den ganzen lieben langen Tag lang schwärmte meine Schwester von diesem Harry Styles und ich konnte es einfach nicht mehr hören! Ihr ganzes Zimmer war mit Postern von ihm zu plakatiert und ich konnte es einfach nicht mehr sehen! Jedes Thema am Essenstisch lenkte sie in diese Richtung, das Telefon blockierte sie den ganzen Tag lang, um mit ihrer besten Freundin über ihn zu reden und jetzt durfte ich sie auch noch auf dieses bescheuerte Konzert begleiten. Dabei hatte ich gehofft, dass sie endlich einmal für ihr Vergehen bestraft würde. Ich hätte einfach nichts sagen dürfen!

Clarissa hatte sich heimlich Konzertkarten für Frankfurt geholt und diese mit der Kreditkarte unseres Vaters bezahlt. Ich hatte sie verpetzt. Und anstatt sie zu bestrafen, ließen meine Eltern sie nun dorthin. Ich war die einzige, die litt. Aber so war das ja irgendwie immer. Das süße Nesthäkchen Clarissa bekam jeden Wunsch erfüllt und ich musste zusehen und meistens noch die Konsequenzen ausbaden, die sie – nicht ich! – zu verantworten hatte.

Während meine kleine Schwester in Rekordzeit Fakten über das anstehende Konzert herunterratterte, entfernte ich mich heimlich aus der Küche. Sobald ich auf dem Flur war, schlich ist zu meinem Zimmer und verschloss die Tür hinter mir. Ich konnte es einfach nicht fassen! Ausgerechnet Harry Styles! Konnte man mich nicht anders bestrafen? Gegen ein Iron Maiden Konzert hatte ich nämlich nichts einzuwenden. Rein gar nichts.

Und genau dort lag der Hund begraben. Ich liebte den Rock. Ich liebte das Harte, mochte Gitarrensolos und viel Gefühl in den kreischenden Stimmen von Rockballaden. Da war ein Konzert bei Harry Styles einfach nicht vorgesehen.

Zugegeben, wenn ich Popmusik hören würde, ginge mein Geschmack mit großer Wahrscheinlichkeit in eine ähnliche Richtung. Immerhin war Harry Styles nicht schlecht. Er schrieb echt ziemlich gute Lieder für sein Genre und ich hatte mich sogar schon ein bis zweimal dabei erwischt, als ich einen Ohrwurm von einem seiner Songs hatte.

Die Wände in London waren nicht dick gewesen. Meine Schwester und ich hatten uns also immer Kämpfe der Anlagen in unseren Zimmern geliefert und die Musik immer lauter gedreht, bis unsere Mutter nicht mehr aufgehört hatte zu schreien, sie die Sicherung rausgemacht hatte, damit wir keinen Strom mehr hatten oder bis Mr. Fletcher, unser Nachbar von unten bei uns geklingelt hatte. Ich hatte in den letzten zwei Jahren, in denen Clarissa schon von diesem Kerl besessen war, ziemlich viele seiner Lieder gehört – wenn auch eher unfreiwillig. Und nun ja, was sollte ich sagen? Untalentiert war er keinesfalls. Trotzdem würde ich alles dafür tun, dass niemand meiner Freunde davon erfahren würde, dass ich auf eines seiner Konzerte ging.

Keiner meiner Freunde außer... Jessy! Sie war meine beste Freundin in London gewesen. Mit ihr hatte ich einfach über alles und jeden reden können und sie wäre niemals auf die Idee gekommen mich auszulachen. Na gut, das war eine Lüge. Sie lachte mich oft aus. Aber sie entschuldigte sich immer direkt im Anschluss dafür und bekundete mir ihr Mitleid.

Hier in Deutschland fehlte sie mir sehr. Meine Schwester und ich waren bilingual aufgewachsen. Mein Vater, Peter, war deutsch und meine Mutter, Elisabeth, war in England aufgewachsen. Es war also nicht schwer für mich hier Anschluss zu finden. Ich sprach die deutsche Sprache fließend, dachte aber die meiste Zeit auf englisch. Und so hatte ich auch gleich in meiner ersten Schulwoche auf der Heinrich-Kleyer-Schule eine neue Freundin gewonnen. Sie hieß Rose und war vor zwei Jahren aus Amerika hierher gezogen. Sie machte mir die Umgewöhnung noch leichter. Ein weiterer Vorteil an meiner neuen Schule oder besser gesagt dem deutschen Schulsystem war, dass ich mir mit Clarissa nicht länger einen Schulhof zu teilen brauchte. Während sie ihr letztes Jahr in der Mittelstufe vor sich hatte, musste ich das letzte Jahr in der Oberstufe hinter mich bringen. Das hieß gleichzeitig, dass jeder von uns eine andere Schule besuchte. Traumhaft! Davon hatte ich schon ewig geträumt.

Die Wohnungstür fiel ins Schloss und sofort hatte ich wieder bessere Laune. Ich entriegelte meine Tür und fiel meinem Vater um den Hals. „Schön, dass du wieder da bist. Du glaubst nicht, was Clarissa gemacht hat, sie-"

„Schatz, lass mich bitte erstmal richtig ankommen, ja?" Mein Vater sah mich aus müden Augen an. Sofort machte ich einen Schritt rückwärts. „Natürlich." Ich blickte ihn entschuldigend an und wartete, bis er seine Tasche und seine Jacke ablegte. Als meine Mutter in den Flur kam, wusste ich, dass sie das Gespräch übernehmen würde und sogleich machte ich mich auf den Rückweg in mein Zimmer.

Natürlich hatte ich es meinem Vater gleich erzählen wollen. Er war der einzige, in dieser Familie, der immer zu mir hielt. Er versuchte die Sache fair zu betrachten. Wenn es nach ihm ginge, wäre Clarissa mit einer großen Wahrscheinlichkeit bestraft worden. Ich aber mit Bestimmtheit auch. „Petzen mag keiner.", hatte ich die Worte meines Vaters in den Ohren und ich wusste auch, dass er Recht hatte. Ich war ja auch keine Petze. Aber wenn es um meine Schwester und ihre Besessenheit Harry Styles gegenüber ging, da konnte ich einfach nicht anders.

In meinem Zimmer angekommen, machte ich mich fertig für mein Bett. Ich schlüpfte aus meinen schwarzen Klamotten und in meine Stitch-Pyjama-Hose. Ich würde noch schnell Jessy anrufen, ehe ich das Licht ausschalten würde. Die würde vielleicht Augen machen, oh man. Und auslachen würde sie mich bestimmt auch. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln.

„Aber du hasst Harry Styles!", erklärte sie mir nur wenige Minuten später über den Hörer und ich musste lachen. „Erzähl mir was neues.", gab ich darauf zurück und sie wurde wieder ernster. „Und da ist wirklich schon das letzte Wort gefallen?"

„Ich fürchte ja." Ich seufzte. Die Informationen vom Abend sickerten endlich ganz zu mir durch, als ich meine Abwehrhaltung löste. Ich würde doch tatsächlich auf ein Konzert von Harry Styles gehen. Oh, verdammt!

Hate you. Miss you. Love you. | HSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt