Kapitel 1

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„Enne!" Sie konnte Anuwes lachende Stimme hören, kroch noch tiefer in die kleine Nische und hielt den Vorhang krampfhaft fest, so dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Keinen Mucks gab sie von sich und als sie Anuwes Anwesenheit bemerkte, hielt sie sogar den Atem an.

Geh weg!

Immer wieder murmelte sie im Kopf diesen Satz, doch es half nichts.

Der Vorhang wurde zurück gerissen und Anuwe lachte sie an.

„Tztztz, du weißt doch ganz genau, dass ich dich immer finde, kleine Schwester."

Sie schnaubte.

„Nenne mich nicht so und lass mich jetzt in Ruhe."

Anuwe lachte und packte sie an ihrer Schulter.

Sie mochte den weißen Drachenprinzen und das nicht nur, weil er ihr Leben gerettet hatte. Anuwes kindliche Frohnatur machte ihn liebenswert, wie es die weißen Drachen schon immer waren. Anuwe war als Mensch sanft, was man von seinen Brüdern nicht behaupten konnte. Dabei stand er ihnen in Größe und Statur in nichts nach. Nun ja, zumindest nicht bei denen, die Enne kannte.

Anuwes Zwilling hatte sie noch nicht kennengelernt, obwohl sie jetzt schon seit drei Jahren hier im Palast lebte. Der schwarze Drache lebte zurückgezogen in den Bergen und Wäldern und da wünschte sich Enne auch gerade hin.

Anuwe zog sie an sich und legte seinen schweren Arm auf ihre Schultern.

„Du bist aber irgendwie meine kleine Schwester. Ich habe dein Leben gerettet und das macht  mich in meinen Augen zu deinem großen Bruder. Und ich kann es doch nicht zulassen, dass eben meine kleine Schwester sich versteckt, wenn die Auswahl-Zeremonie beginnt."

Enne schnaubte.

„Das kannst du wohl. Calarion wird mich nicht auswählen."

Anuwe hob einen Finger.

„Er hat alle Frauen auf die Terrasse befohlen. Jefrandt ist gerade angekommen, um an der Zeremonie teilzunehmen. Komm schon, Enne. Selbst wenn Calarion dich nicht auswählt, willst du das doch nicht verpassen." Er zeigte auf seine Kleidung, die aus weißer Seide bestand. „Ich habe mich doch extra hübsch gemacht und du willst mich ignorieren."

Er zog eine Schnute, was sie wieder zum Lachen brachte.

„Nun ja, du siehst wirklich sehr gut aus in dieser Kleidung."

Er zwinkerte ihr zu.

„Warte, bis ich mich erst in einen Drachen wandle. Du weißt doch, dass dass ich der schönste unter ihnen bin."

Sie knuffte ihn leicht in die Seite.

„Lass das nur nicht deine Brüder hören. Jeder von euch bildet sich ein, er wäre der Schönste. Außerdem kann ich das noch nicht beurteilen, denn ich habe deinen Zwillingsbruder noch nie gesehen. Weder als Mensch, noch als Drache."

Anuwe grinste.

„Deswegen musst du auf die Terrasse, Enne. Jefrandt wird nur während der Zeremonie hier sein und dann wieder gehen." Er seufzte traurig. „Ich wünschte..."

Anuwe beendete den Satz nicht, aber Enne wusste, wie sehr er seinen Bruder vermisste, der sich von allem zurückzog.

Die Sonne schien auf ihr Gesicht und sie stellte erschrocken fest, dass Anuwe sie zur Terrasse gebracht hatte. Schnell stemmte sie ihre Füße auf den Boden.

„Bitte, Anuwe. Ich will nicht. Jeder wird mich anschauen und über mich spotten. Lass mich einfach hier. Ich kann auch von hier sehr gut alles sehen."

Die Drachen von Wikuna - Jefrandt (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt