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Eine warme Briese weht mir um die Nase, als ich das Flugzeug verlasse. Es sind um die 25 Grad, ziemlich warm für Helsinki um diese Jahreszeit. Seufzend folge ich den Menschenmassen über die Bahn bis zur Eingangstür des Flughafens und sofort springen mir die merkwürdigen Wörter der Anzeigetafeln in die Augen. Ach wie ich es vermisst habe.
Ich konnte noch nie besonders gut finnisch. Als meine Familie vor etwa 10 Jahren hierher gezogen ist, habe ich zuerst kein Wort verstanden. Und auch in der Zeit, in der ich dann hier lebte, fiel es mir immer schwer mit anderen zu kommunizieren. Ich hab mir aber auch nie besonders viel Mühe gegeben, diese Sprache zu lernen, wenn ich ehrlich bin. Meine Mutter ist Norwegerin und hat mich dementsprechend auch mit dieser Sprache großgezogen, mein Vater ist jedoch Finne und irgendwann kamen die beiden dann auf die Idee, dass es doch eine gute Idee wäre nach Helsinki zu ziehen. Sie haben ein wunderschönes Haus am Stadtrand gefunden und waren total begeistert. Da ich damals erst 19 und finanziell noch nicht in der Lage war, alleine zu wohnen, musste ich mitkommen. Ich fand das ganze damals total blöd, ganz im Gegenteil zu meinem Bruder Alex, der sogar schon Monate vorher einen Finnischkurs belegt hat und freiwillig mitgekommen ist.
Ich musste also irgendwie das beste aus der Situation machen. Ich habe sogar versucht, finnisch zu lernen aber wie ich schon sagte, viel Mühe hab ich mir nie gegeben. Nachdem ich eine Ausbildung zum Make Up Artist und mich endlich finanziell unabhängig gemacht habe, bin ich wegen verschiedenen familiären Differenzen und anderen Gründen zurück nach Oslo gegangen. Zwar habe ich mich in den Jahren an Helsinki gewöhnt, Freunde gefunden und mich fast wie zuhause gefühlt, aber im Endeffekt war es eben doch nie dasselbe. Ich habe bei einer alten Schulfreundin im Salon angefangen zu arbeiten und bin bis heute sehr glücklich dort. Sie ist zu meiner engsten Freundin geworden, die ich auch nie wieder missen möchte. Wir haben jeden Tag eine Menge Spaß und ich könnte mir nichts anderes vorstellen.

Als ich am Kofferband stehe und auf meinen Koffer warte, der laut Anzeige wohl erst in zwanzig Minuten auftauchen wird, gehen mir viele Dinge durch den Kopf. Ich habe meine Familie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen, nur mal über Facetime. Außer meinen Vater, der mich einmal in Oslo besucht hat, genauso wie mein Bruder Alex. Aber auch das ist schon eine lange Zeit her, somit wird es wohl erstmal komisch sein und vermutlich eine Menge zu erzählen geben.
Als Alex mir die Einladung zu seiner Hochzeit geschickt hat und ich ihm am Telefon spontan zugesagt habe, dass ich dann gleich über den ganzen Sommer bleiben werde, habe ich nicht wirklich nachgedacht und es später ein bisschen bereut, weil ich nicht groß drüber nachgedacht habe. Ich war mir echt nicht sicher, ob ich es solange mit meiner Familie aushalten werde, aber dann war es eh schon zu spät. Ich bin immer noch nicht sicher, aber es wird sich noch zeigen. Vielleicht wird das auch der beste Sommer überhaupt, wenn ich schon einmal dort bin.
Auf meinen Vater und Alex freue ich mich auch wirklich, mit den beiden hab ich mich schon immer gut verstanden und vermisse sie oft. Das Problem sind eher meine Mutter und ihr "neuer" Freund, der in der Vergangenheit nicht viel Verantwortungsbewusstsein gezeigt hat und die halbe Familie auseinander gebracht hat. Ich weiß nichtmal, ob die beiden überhaupt noch zusammen sind, wahrscheinlich aber schon. Ich glaube, mein Bruder hätte mir das sonst bestimmt erzählt.

Nachdem ich meinen Koffer vom Band gehievt habe und die Ankunftshalle betrete, brauche ich mich gar nicht lange umschauen, denn der große, herzförmige Ballon in den Farben norwegens mit meinem Namen drauf ist kaum zu übersehen. Auch mein strahlender Bruder und mein Vater fallen deutlich auf, sie grinsen über beide Backen.
"Aurora!", rufen sie und winken und ich muss lächeln, ehe ich auf sie zugehe und sie beide in die Arme schließe. Es ist doch gut, die beiden wieder zu sehen, ich habe sie vermisst.
"Ihr seit kaum zu übersehen", nuschele ich und zeige mit meinem Finger zu dem Ballon, was die beiden nur mit einem breiten Grinsen kommentieren. "Schön euch wieder zu sehen."
"Lass dich mal ansehen", sagt mein Vater und hält mich an beiden Armen fest, um mich freundlich zu mustern. "Hast dich kaum verändert."
"Ist das ein Kompliment oder wie kann ich das verstehen?", schmunzele ich und will meinen Koffer nehmen, jedoch hat Alex ihn sich schon längst geschnappt.
"Natürlich, was denkst du denn", lacht mein Vater und gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Ausgang.
Mein Bruder hat sich nicht großartig verändert, seine braunen Haare sind kurz wie immer, nur sein Bart ist deutlich kürzer als beim letzten Mal, als ich ihn gesehen habe. Mein Vater widerum ist deutlich älter geworden. Sein Haar ist fast komplett ergraut und auch sonst bildet sich die ein oder andere Falte in seinem Gesicht. Solche Dinge fallen einem aber natürlich auch direkt vermehrt auf, wenn man sich ewig nicht gesehen hat.
Als wir aus dem Gebäude treten, kommen plötzlich viele Erinnerungen von damals hoch. Wie ich das erste Mal hierhergekommen bin, das Gefühl was ich damals hatte. Die vielen Male, die ich aus dem Urlaub wieder herhergekommen bin und gar nicht glücklich war. Ja, man kann sagen, dass ich nicht unbedingt gern hier gelebt habe, zumindest nicht am Anfang. Und selbst später fühlte es sich noch komisch an, dieses Gebäude zu verlassen. Der Rest meiner Familie fühlt sich aber hier denke ich sehr wohl, und das ist auch gut so, denn vorher war es oft schwer für sie. Mein Dad musste dauernd seinen Job wechseln, während meine Mutter in einem 0815 Job gefangen war. In Finnland hat sich dann alles verändert, mein Dad hat eine Firma übernommen und meine Mutter endlich einen Job gefunden, der ihr wirklich Spaß macht. Für sie war es also eine sehr gute Entscheidung, hierher zu kommen.

Kurzerhand verstauen wir meine Sachen im Kofferraum und fahren los. Während der Fahrt reden mein Vater und mein Bruder unentwegt, erst geht es darum was sie in den letzten Monaten so gemacht haben, und schließlich bleiben sie bei der anstehenden Hochzeit meines Bruders hängen, und erzählen mir alles von der Planung. Ich kenne Alex zukünftige Frau nur von Bildern und Erzählungen, getroffen habe ich sie noch nie, was eigentlich schade ist. Sie ist aber angeblich sehr nett, was sie auch sein sollte, wenn sie meinen Bruder heiraten will. Er verdient nur das allerbeste.
"...und jetzt ist es endlich soweit", lächelt mein Dad als wir in meine Straße einbiegen und ich nicke langsam. Das war ganz schön viel aufeinmal. Als ich nichts weiter sage, sieht er mich fragend an.
"Du bist so still heute. Ist alles in Ordnung?"
Hier in dieser Straße sieht noch alles aus wie immer. Die bunten Altbauhäuser mit den Hintergärten, der kleine Park in der Mitte der Straße, Kinder spielen. Es ist alles wie immer, und ich werde melancholisch. Vielleicht habe ich Helsinki und meine Nachbarschaft doch ein bisschen vermisst.
"Aurora?"
"Hm? Nein, nein alles gut."
"Du siehst besorgt aus. Ist es wegen Samu?"
Oh gott. Das habe ich ja total verdrängt.

Afterglow [18+]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt