karjalanpiirakka

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Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich ein breites Grinsen im Gesicht. Ich habe keine Ahnung warum, aber ich denke mal es liegt an dem Blondschopf, mit dem ich mich gestern Abend noch eine ganze Weile unterhalten habe. So lang, bis ich es nicht mehr komisch fand, und ihm jetzt viel offener entgegentreten kann. Naja, leider hat es mir auch nur noch deutlicher gemacht, dass ich immer noch Gefühle für ihn habe, aber die muss ich eben irgendwie verdrängen. Es ist natürlich jetzt schon klar, dass das nicht klappt, wenn ich die ganze Zeit mit ihm zusammen bin. Warum musste er auch ausgerechnet Alex' bester Freund werden? Oder besser gesagt...warum musste ich jemals mit ihm zusammenkommen?
Nach einer Dusche und einem Frühstück fahre ich mit Mari in die Stadt, um für morgen einkaufen zu gehen. Morgen, am Freitag, ist der erste der drei Hochzeitstage, und es startet am Abend mit einem kleinen Get Together mit den engsten Verwandten und Freunden, worauf ich mich schon echt freue, weil ich endlich Osmo wiedersehen werde. Er ist wirklich einer meiner engsten Freunde, und er hat mich auch ein paar Mal in Oslo besucht in den letzten Jahren, allerdings ist das letzte Mal ebenfalls schon wieder eine ganze Weile her. Alex und ich haben ihn damals kennengelernt, als wir bei einem Straßenfestival waren, er hat dort Musik gemacht und irgendwie sind wir ins Gespräch gekommen. Und durch ihn haben wir dann eben auch Samu und ein paar andere Freunde kennengelernt. Osmo ist mit der Zeit irgendwie ein Vorbild für mich geworden, er hat die Dinge immer anders angepackt als ich. Er hat immer für alles einen Rat, man kann eine Menge Spaß mit ihm haben und er bleibt auch in schwierigen Situationen ruhig. Wenn ich schon lange aufgegeben habe, hat er immer noch ein Lächeln auf den Lippen gehabt und irgendwie wusste ich so immer, dass alles wieder gut wird. Wir haben natürlich oft telefoniert oder ähnliches und den Kontakt nicht verloren. Trotzdem freue ich mich ihn morgen endlich wieder richtig, Angesicht zu Angesicht, wiederzusehen.
Nachdem wir die wichtigsten Sachen in einem großen Supermarkt eingekauft haben, und einen Umweg über den Markt gemacht haben, beschließen wir noch ein bisschen am Hafen entlang zu schlendern. Es sind nicht besonders viele Leute unterwegs, was ungewöhnlich ist für diese Jahreszeit, denn es ist Sommer und somit die Hoch-Zeit für Touristen. Die Finnen selbst tummeln sich um diese Zeit eher in ihren Mökkis oder eben irgendwo auf dem Land, fernab von dem Trubel, und kommen erst im Herbst wieder zurück in ihre Häuser. Ich finde das eigentlich ganz schön, das ist einfach jedes Mal wie Urlaub.
"Karjalanpiirakka?", fragt Mari auf einmal, und ich sehe sie verwirrt an. Irgendwo klingelt da was, aber ich weiß nicht genau was. Ich weiß nicht mal, ob ich sie überhaupt richtig verstanden habe, immerhin bin ich der Sprache nicht mächtig, es könnte also eigentlich irgendwas sein. Mari lacht, ich glaube mein Gesicht spricht tausend Bände.
Wortlos zieht sie mich zu einem Stand mit verschiedenen Gebäcken und jetzt geht mir ein Licht auf. Die kleinen Teighüllen mit Kartoffelfüllung. Die sind ein Riesen Ding hier und auch wir haben sie früher immer gemacht und gegessen. Sie zu machen ist gar nicht so einfach wie man denkt, zumindest wenn man so schlecht kocht wie ich, aber wenn man den Dreh einmal raushat, dann macht es echt Spaß.

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"Ich möchte euch jemanden vorstellen."
Verwirrt drehe ich mich um und sehe meinen Dad, der im Türrahmen steht und eine blonde Frau an der Hand hat. Alex und ich sind gerade dabei, karelische Piroggen zu machen, und auf einmal weiß ich auch warum. Gestern Abend hat er uns darum gebeten, doch ohne zu sagen weswegen, wir haben gedacht, er wollte sie einfach mal wieder essen, und jetzt bringt er auf einmal eine Frau mit. Das ist bestimmt seine neue Freundin. Er hätte ja wenigstens mal was sagen können, dann hätte ich mir noch mehr Mühe gegeben.
"Das ist Mari", sagt er und räuspert sich kurz. "Meine neue Freundin."
Ich schaue Alex einen Moment lang an, ein bisschen verwirrt, und er scheint nicht so glücklich über die Neuigkeiten zu sein, doch ich freue mich wirklich für Dad. Ich weiß, dass das mit Mum hart war, vor allem weil die beiden sich hier sozusagen einen Traum erfüllt haben, und die Scheidungszeit viel Stress war. Dad hat sich seitdem total in die Arbeit gestürzt und versucht, die Probleme unter Aktenbergen zu begraben. Umso besser, dass er jemanden gefunden hat, der ihn aus seinem kleinen Tief holt. Zumindest hoffe ich das, denn er hat wirklich nur das Beste verdient.
Eilig putze ich meine Hände ab und gehe zu den beiden um mich vorzustellen.
"Hei, ich bin Aurora", lächele ich und halte ihr meine Hand hin, welche sie sofort schüttelt und lächelt. "Freut mich wirklich sehr", sagt sie freundlich. Sie ist wirklich hübsch. Das sind die Finnen generell, wie mir schon seit meinem ersten Tag hier aufgefallen ist. Da werde ich glatt ein bisschen neidisch.
"Mich auch." Ich mag sie irgendwie direkt, obwohl ich sie nicht mal kenne, aber sie scheint eine nette Ausstrahlung zu haben. Sowas merkt man bei den meisten Menschen ja relativ schnell.
Nach mir begrüßt auch mein Bruder sie, doch er ist dabei deutlich verhaltener als ich, da er etwas skeptisch zu sein scheint. Ich kann es ihm nicht verübeln, immerhin ist die ganze Situation nicht so einfach und wir werden uns erstmal daran gewöhnen müssen, Dad mit einer neuen Frau an seiner Seite zu sehen. Immerhin scheint sie aber nett zu sein.
"Willst du dich setzen?", frage ich und zeige an den Tisch, der schon gedeckt ist, allerdings nur für drei. Sie nickt lächelnd und setzt sich, während ich schnell noch ein Gedeck aus dem Schrank hole und vor sie stelle. Man sieht eindeutig, dass sie sehr aufgeregt ist, ihre Körperhaltung verrät sie. Ich wäre aber an ihrer Stelle genauso aufgeregt, und um ehrlich zu sein bin ich es auch irgendwie. Ich will einfach nur, dass mein Dad glücklich ist, mehr nicht. Also wenn sie das schafft, dann ist alles gut, doch diese Situation ist einfach neu für mich.
Mein Bruder wendet sich wieder den Kartoffeltaschen zu und ich geselle mich zu ihm.
"Sie scheint nett zu sein", versuche ich ihn aufzuheitern, doch sein Gesicht spricht Bände.
"Woher willst du das wissen?", grummelt er und ich grinse breit.
"Menschenkenntnis."
"Deine Menschenkenntnis ist beschissen, Aura. Darauf kann ich nicht vertrauen", sagt er stumpf und ich ziehe einen Schmollmund.
"Du könntest wenigstens nett sein. Du kennst sie doch nicht. Warum bildest du dir so schnell ein Urteil? Das musst du echt mal in den Griff kriegen." Ja, irgendwie verhält er sich gegenüber neuen Menschen öfters so. Wenn es nur in diesem Fall so wäre, würde ich es ja noch verstehen, aber es ist oft so. Und weil ich das komplette Gegenteil davon bin, nervt es manchmal ein bisschen.
"Es geht hier aber um Dad."
"Ja, weiß ich doch. Trotzdem. Sie ist bestimmt nett." Mit diesen Worten schiebe ich die Kartoffeltaschen in den Ofen und setze mich zu Dad und Mari an den Tisch. Dann sehe ich sie abwartend an.
"Also, wie habt ihr euch kennengelernt?"
Die beiden schauen sich einen Moment lang an und keiner von ihnen sagt was, doch ich lasse nicht locker. Also erbarmt sich mein Dad schließlich zu antworten.
"Bei Johnny. Er hatte doch neulich Geburtstag...", fängt er an und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie etwas verbergen. Vielleicht wollen sie auch einfach nicht darüber reden, naja. Vielleicht will ich auch gar nicht so viele Details.
"Achso", nicke ich also nur und mache Alex mit einem strengen Kopfnicken darauf aufmerksam, sich neben mich zu setzen, was er auch glatt tut. Der Blick hilft immer.
"Und was machst du so?", versuche ich ein Gespräch anzukurbeln, denn die Stimmung ist hier gerade etwas erzwungen. Da Dad wohl nicht freiwillig erzählen möchte und Alex auch keinen Anstand macht, von sich aus was zu sagen, muss ich das wohl tun. Denn sonst werden die nächsten Stunden die längsten Stunden meines Lebens.
"Ich habe einen Ballonladen. Ich habe auch die Deko für Johnnys Feier organisiert, und so haben wir uns getroffen", antwortet sie und lächelt erst mich und danach mein Vater warm an. Okay, sie scheint ihn echt zu mögen. Das ist ein gutes Zeichen.
"Einen Ballonladen?", hakt Alex mit verschränkten Armen nach und ich trete ihn unterm Tisch.
"Ja. Aber auch für Dekoration und alles Mögliche."
"Also ich finde das cool", grinse ich und Alex verdreht in meine Richtung gewandt die Augen.
"Du liebst ja auch Ballons. Wenn man nicht weiß, was man dir zum Geburtstag schenken soll, gibt's einfach einen Ballon", kontert er. "Hast du einen im Affendesign? Das würde gut zu ihr passen", fragt er Mari und sie lacht leicht, während ich wieder schmolle und ihn spielerisch auf den Arm haue.
"Du Arsch."
"Kinder...", murmelt mein Dad ein bisschen genervt, doch Mari scheint das zu amüsieren und wirft ihm diesen typischen ist-schon-gut Blick zu. Wenigstens macht Alex schon Witze in ihrer Gegenwart. Und das würde bestimmt nicht der letzte an diesem Abend sein.

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Als ich mich an diesen Tag erinnere, muss ich ein bisschen lachen. Mari hat währenddessen ein paar Karjalanpiirakka gekauft und hält mir die Tüte hin.
"Warum lachst du? Wollen wir uns wohin setzen?", fragt sie und ich nicke, immer noch grinsend. Schweigend gehen wir ein Stück und lassen uns dann auf eine Bank ganz in der Nähe fallen, von wo man gut auf das Wasser schauen kann. Hungrig packe ich eine Tasche aus der Tüte, gebe Mari den Rest, und fange dann an zu essen.
"Ich musste gerade daran denken, als Dad dich das erste Mal mit nachhause gebracht hat und wir die auch gemacht haben", murmele ich und deute auf die Pirogge in meiner Hand. "Und Alex war die ganze Zeit so angepisst und hat Witze über mich gemacht. Du hast drüber gelacht, was nur dein Glück war, denn abends hat er zu mir gesagt, dass du ja doch ganz cool bist."
Ich bin froh, dass wir offen über sowas reden können, und niemand sich angegriffen fühlt. Mari weiß, dass Alex ihr anfangs skeptisch gegenüberstand, und die beiden haben sich schon vor langer Zeit darüber ausgesprochen. Seitdem sind wir alle irgendwie unzertrennlich gewesen. Ich habe sie von Anfang an gemocht, wie auch nicht. Wer einen Ballonladen hat, der muss einfach cool sein.
"Darüber bin ich sehr froh. Es war echt meine größte Angst, dass ich mich nicht mit euch verstehe", sagt sie nachdenklich und lächelt mich dann an. "Aber du hast dir echt Mühe gegeben, dass es nicht unangenehm wird."
"Ich war froh, dass Dad jemanden gefunden hat, nachdem die ganze Sache mit Mum durch war. Und, dass ich nicht mehr die einzige Frau im Haus war", grinse ich.
"Hmm, ja. Wir haben schon viel erlebt zusammen. Ich bin echt dankbar dafür, und ich bin so froh, dass du diesen Sommer hier bist. Wirklich, Aurora. Ich habe dich viel zu lange nicht mehr gesehen und ich habe das Gefühl, dass wir uns ganz viel zu erzählen haben. Natürlich nur, wenn du das willst. Aber wir haben ja noch Zeit. Ich habe dich einfach so vermisst."
Wow, jetzt hat sie mich echt gerührt. Ich weiß gar nicht so recht sagen soll, weswegen ich meine Pirogge aus der Hand lege und Mari kurzerhand umarme. Ich hätte nie gedacht, dass ich sie so sehr in mein Herz schließen würde, und auf einmal merke ich, dass ich sie wirklich vermisst habe und es doch schöner ist, wenn sie da ist. Keine Ahnung, warum ich so selten mit ihr gesprochen habe, als ich in Oslo war. Warum bin ich überhaupt gegangen? Plötzlich weiß ich gar nichts mehr, und alles fühlt sich irgendwie unwirklich an. Ich bin einfach froh, jetzt gerade hier zu sein.

Afterglow [18+]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt