something I can't hide

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Dort im Garten steht niemand anderes als Samu, der gerade, zusammen mit meinem Bruder, lauthals lachend ein paar Stühle quer über die Wiese schleppt. Okay, er hat sich echt gemacht. Die Haare nach wie vor verwuschelt, doch unter seinem weißen Shirt zeichnen sich deutlich Muskeln ab, die vor ein paar Jahren noch nicht da waren. Im Gesicht sieht er ebenfalls viel erwachsener aus, die ein oder andere Falte kann ja doch mal ganz nützlich sein. Als ich sein Lächeln sehe wird mir ganz anders. Er sieht irgendwie unbeschwerter aus als damals, weniger gestresst. Als er damals so viel zu tun hatte, war er eher eine wandelnde Leiche. So etwa wie ich jetzt gerade.
Als ich mich dabei ertappe, wie ich ihn ein bisschen zu lange anstarre, schrecke ich vom Fenster zurück. Warum muss er auch so gut aussehen? Das macht es mir hier nicht unbedingt einfacher.
Ich werde ihm also gleich schon gegenüberstehen. Eine Warnung wäre vielleicht hilfreich gewesen, denn jetzt ist mein Puls wieder in die Höhe geschossen und ich muss mich erstmal wieder einkriegen. Einfach ganz cool bleiben. Das ist einfacher gesagt, als getan, aber ich muss es versuchen, denn sonst wird das ganz schön peinlich.

Langsamer als sonst ziehe ich mir eine Jeans und ein rotes Shirt an und föhne meine blonden Haare, bis ich wieder wie ein normaler Mensch aussehe. Dafür brauche ich immer eine Weile, da meine Haare wirklich lang sind und dann auch noch wellig. Alle beneiden mich immer um meine Haare, aber wenn man die Person mit diesen Haaren ist, ist man manchmal einfach nur genervt.
Ich mache mir keine große Mühe, meine schwarzen Augenringe irgendwie zu verstecken, immerhin ist es schon Abend und ich werde ohnehin in ein paar Stunden hoffentlich schlafen können. Außerdem werden wohl alle verstehen, warum ich aussehe wie ein Zombie.
Schließlich laufe ich etwas aufgeregt nach unten und auf direktem Weg in die Küche, wo Mari schon steht und das Essen vorbereitet. Sie scheint in ihrer eigenen Welt zu sein, denn sie summt leise eine Melodie aus dem Radio mit und tanzt, während sie mir mit dem Rücken zugewandt steht, weswegen ich einmal klopfe.
"Hei, kann ich dir helfen?", frage ich, während ich im Türrahmen lehne und versuche nicht aus dem Fenster in den Garten zu schauen. Mari dreht sich sofort um und grinst breit.
"Aura! Wie schön. Ja, hier, die müssen alle geschnitten werden", sagt sie dann lächelnd und zeigt auf einen riesigen Berg Gemüse neben ihr. Ich nicke nur, schnappe mir ein Messer und stelle mich neben sie, um anzufangen die Karotten zu schneiden.

"Also Aura, wie ist es dir so ergangen? Dein Dad hat erzählt du bist immer noch bei Alessia im Salon?", fängt Mari dann an mich auszufragen. "Wolltest du nicht immer einen eigenen aufmachen?"
Ich muss schmunzeln. Ja, das habe ich mir immer gewünscht, seit ich die Ausbildung damals begonnen habe.
"Naja, schon, aber es hat sich einfach noch nicht so ergeben und ganz ehrlich, es ist eigentlich ziemlich perfekt so wie es gerade ist. Ich meine, Alessia behandelt mich als wäre ich auch Eigentümer und wir haben eine Menge Spaß. Ich weiß nicht ob ich so viel Spaß hätte, wenn ich meinen eigenen Salon aufmachen würde", erzähle ich und grinse. Jeder Tag auf der Arbeit ist ein guter Tag. Okay, man hat immer mal Kunden die Nerven oder kleine Auseinandersetzungen, aber das ist ja total normal. Wenn ich mir vorstelle wie es wäre den ganzen Tag im Büro zu sitzen, so wie ich es vor meiner Ausbildung gemacht habe, wird mir ganz anders.
"Das ist verständlich, Spaß ist das wichtigste. Es ist auch wirklich anstrengend ein eigenes Unternehmen zu leiten. Hat alles seine Vor-und Nachteile."

Mari hat ebenfalls ein eigenes Unternehmen, nämlich einen Ballonshop, was irgendwie richtig cool ist. Früher hat sie uns bei neuen Designs immer gefragt, was wir besser finden und was wir später an unsere Kinder verschenken würden. Ich habe sogar eine Zeitlang bei ihr im Laden gearbeitet, so eine Art Feriending. Allerdings nur als Warenauffüller, weil mein Finnisch nicht gereicht hat, um Kunden zu bedienen. Mittlerweile würde es wahrscheinlich nicht mal mehr für das erste reichen.
"Dafür machst du jeden Tag Kinderherzen glücklich", murmele ich und werfe währenddessen doch einen Blick nach draußen. Doch von Samu und meinem Bruder keine Spur.

"Suchst du jemanden?", fragt Mari keck und grinst mich breit an. Sie hat mich wahrscheinlich eh schon durchschaut. Eigentlich suche ich niemanden, meine Augen tun nur nicht das, was ich ihnen befohlen habe.
"Ehm, nein", versuche ich mich rauszureden, doch sehe ganz genau im Augenwinkel, dass sie immer noch grinst.
"Hast du ihn vermisst?" Sie kann es echt nicht lassen. Man muss dazu sagen, dass sie echt diejenige war, die am meisten für mich da war, als das mit Samu vorbei war. Naja, eigentlich schon die ganze Beziehung über, denn meine Freunde und mein Bruder waren auch alle Samus Freunde und ich wollte nie mit ihnen darüber sprechen, doch Mari hatte immer ein offenes Ohr für mich. Und dafür bin ich ihr auch dankbar, denn ich denke ohne sie wäre ich an vielen Stellen aufgeschmissen gewesen. Sie hat die Mutterrolle, die meine Mutter irgendwann aufgegeben hat, echt gut übernommen, und das werde ich ihr nie vergessen.

"Wen denn?", tue ich ganz unwissend, während ich die Gurke schäle.
"Hm, etwa 1.93 groß, blond, strahlend blaue Augen..."
"Stop", mache ich und lache. "Nicht weiterreden."
"Wieso? Macht dich das nervös?", scherzt sie und ich schüttele nur lachend den Kopf. "Hei, kannst du kurz die Schere holen? Die muss dort auf dem Tisch liegen."
"Klar", nicke ich und laufe gedankenverloren durch den Raum, ohne so recht zu schauen wo ich hinlaufe.
"Mari missä on-"
...und voll in Samu hinein. Natürlich. Diese tiefe Stimme erkenne ich ohne hochzuschauen, und jetzt gerade starre ich nur auf den breiten Oberkörper vor mir. Der Moment ist wohl gekommen.

"Moi, anteeksi."
Ich schaue langsam hoch und in sehe in zwei strahlend blaue Augen, seine Lippen zu dem allbekannten verschmitzten Grinsen verzogen. Wie auch sonst.
"M-Moi." Das vermutlich einzige, finnische Wort was ich heute noch zusammenkriegen werde.
Er starrt mich nur an und ich starre wie ein Depp zurück, da ich nicht weiß was ich sagen soll, doch seine blauen Augen machen meine Beine zu Pudding. Ich habe zwar schon vorher gewusst, dass ich eventuell nicht ganz über ihn hinweg bin, aber dass es so schlimm ist, hätte ich nicht gedacht. Warum bin ich nochmal hier?
Erst Maris Räuspern zieht uns aus der Starre und ich drehe peinlich berührt den Kopf weg, während Samu irgendetwas auf Finnisch sagt, was ich nicht verstehe, weil es viel zu schnell ist und außerhalb meines ohnehin sehr schmalen Wortschatzes liegt.
Während die beiden sich kurz unterhalten lege ich die Schere neben Mari ab und will weiter schneiden, doch sie schüttelt den Kopf.

"Aura kannst du Samu kurz den Keller aufmachen? Du weißt doch wo der Schlüssel ist." Das kann er natürlich nicht selbst. Innerlich verfluche ich sie, nicke jedoch höflich. Ich will mich ja hier nicht gleich schon unbeliebt machen, auch wenn ich weiß, dass sie das extra macht.
"Gut, danach kannst du hier weitermachen. Kiitos, Samu."
"Ei kestä."
Nervös verlasse ich mit ihm die Küche und fange im Flur an in der Kommode nach dem Schlüssel zu suchen.
"Schön dich wiederzusehen. Hattest du eine gute Anreise?", fragt er schließlich und ich muss einmal tief durchatmen. Ich weiß nicht, wie ich das die nächsten Wochen aushalten soll, aber okay. Habe wohl keine andere Wahl.
"Ja", lächele ich ihn an. "Bin ein bisschen müde aber geht schon."
"Hmm, reisen ist immer anstrengend."
Ich nicke nur, während seine Stimme noch in meinem Kopf nachhallt, und fische schließlich den Schlüssel heraus, um die Kellertür daneben aufzuschließen.
"Bitteschön", murmele ich und will mich schon umdrehen, um zu gehen doch er hält mich zurück.
"Hei, warte. Ist alles in Ordnung?"
Ich sehe ihn an und er hat seine Stirn in Falten gelegt, als würde er sich Sorgen machen.
"Du scheinst ein bisschen...abwesend. Ich möchte dich nicht nervös machen oder dass es irgendwie komisch zwischen uns ist, sorry."
"Schon okay. Mir geht's gut, tut mir leid. Ich bin wiegesagt nur total müde." Notlüge. "Ich freue mich dich wiederzusehen."
Er lächelt nur erleichtert und verschwindet dann im Keller. Ich starre ihm noch ein paar Minuten hinterher in die Dunkelheit, bevor ich mich schließlich zurück zu Mari in die Küche geselle.

Später am Abend sitzen wir alle gemeinsam draußen im Garten und Essen. Außer Samu sind auch noch ein paar Freunde von meinem Dad und Mari da, und es ist eigentlich ein gemütlicher Abend, doch meine Nervosität weicht nicht. Während die anderen mich darüber ausfragen, was ich die letzten Jahre so getrieben habe, und mir von den Dingen erzählen, die ich verpasst habe, spüre ich permanent Samus Blick auf mir, der links neben mir auf der Hollywoodschaukel sitzt. Er weiß, dass mich das nervös macht, er muss es einfach wissen, und am liebsten würde ich mich wegdrehen, aber das geht ja nicht. Ich weiß nicht mal warum ich mich so schräg verhalte. Ich will ja nicht so unfreundlich oder distanziert wirken, ich habe keinen Grund dazu so zu sein, jedoch ist das mein natürlicher Abwehrmechanismus, wenn mich jemand nervös macht. Und momentan ist das nunmal so, denn ich habe eindeutig immer noch zu viele Gefühle für Samu, die auf keinen Fall richtig ausbrechen dürfen, denn dann bin ich richtig erledigt. Ich weiß dementsprechend nicht so wirklich was ich tun soll, und es treibt mich in den Wahnsinn.

Als das Essen schließlich vorbei ist, und wir abgeräumt haben, verteilen sich die Leute ein bisschen auf den ganzen Garten. Während mein Dad seinen Freunden irgendetwas am Pool zeigt und Samu und Alex auf den Hochzeitsstühlen sitzen und wild gestikulierend über irgendetwas reden, sitze ich immer noch im Schneidersitz auf der Hollywoodschaukel und schaue den beiden zu.
"Hei", höre ich plötzlich eine Stimme neben mir und schaue nach rechts. Es ist Daria, die sich neben mich setzt.
"Hei", lächele ich und rücke ein bisschen auf, damit sie mehr Platz hat. Ich tendiere dazu mich immer überall breit zu machen.
"Hast du dich gut eingelebt? Ist ja ganz schön viel Stress hier im Haus momentan", sagt sie und hält mir fragend eine Flasche Wein hin, worauf ich nicke und sie uns beiden ein Glas einschenkt.
"Danke, ja. Es ist ja für einen guten Zweck und ich finde es eigentlich schön, wenn mal was los ist. Bei mir zuhause ist es immer nur ruhig", grinse ich und stoße mit ihr an, bevor ich einen Schluck Wein nehme.
"Klar, ist mal was anderes zum Alltag", nickt sie verständnisvoll. "Ich bin mittlererweile froh, wenn das ganze vorbei ist. Ich meine, ich freue mich natürlich auf die Hochzeit, aber ich bin einfach froh, wenn der Tag da ist und wir danach erstmal raus hier in die Flitterwochen können."
"Das kann ich gut verstehen. Wohin geht's?"
"Nach Sansibar. Ursprünglich wollten wir nach Bali, aber da waren wir schonmal also dachten wir uns, warum nicht mal was neues."
"Das klingt echt gut."

Mein Bruder und Daria sind schon viel rumgekommen. Er hat mir immer am Telefon erzählt, wenn sie mal wieder einen Urlaub gebucht haben oder von irgendwo wiedergekommen sind. Ich habe dank meiner Eltern auch schon viel gesehen, allerdings ist das schon viele Jahre her und an vieles erinnere ich mich einfach nicht mehr. In den letzten Jahren bin ich nicht besonders viel gereist, ein bisschen durch Norwegen mit meinen Freunden aber das war es auch. Das hier ist das erste Mal seit Jahren, dass ich mal wieder "im Urlaub im Ausland" bin.

Der Abend geht so dahin, während ich mich mehr mit Daria unterhalte und feststelle, dass wir uns echt gut verstehen, was mich auf jeden Fall sehr freut. Anscheinend kennt mein Bruder sie schon viel länger, als er ursprünglich erzählt hat, und sie waren zuerst nur gute Freunde. Zu Samu fragt sie mich auch ein bisschen, doch das meiste hat Alex ihr eh schon erzählt, weshalb ich ihr auch nicht viel mehr dazu sagen kann. Ich weiß ja selbst nicht was ich von all dem hier halten soll.

Als sie sich schließlich ins Bett verabschiedet, weil sie echt müde ist, sitze ich wieder alleine auf der Hollywoodschaukel. Als ich auf die Uhr schaue, ist es schon deutlich nach 23 Uhr. Die anderen sind denke ich auch alle schon reingegangen, denn ich sehe niemanden mehr. Außer einen, der gerade etwas unentschlossen auf mich zukommt.

"Moi, kann ich mich zu dir setzen?"

Afterglow [18+]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt