emma

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Er hat die ganze Fahrt über meine Hand nicht einmal losgelassen.
Während er sich durch den langsam aufkommenden Feierabendverkehr Helsinkis kämpft, sitze ich schweigend neben ihm und schaffe es langsam aber sicher, mich wieder zu beruhigen. Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert ist, aber ich fühle mich immer noch hundeelend, auch wenn die Panik mittlerweile verflogen ist. Vor allem was meine Mum über mich gesagt hat, tut ordentlich weh. Auf der anderen Seite macht sich aber auch der Gedanke in mir breit, dass sie irgendwie recht hat. Ich habe Brian von Anfang an nicht gemocht, aber ich dachte eigentlich immer, dass ich mich da rausgehalten habe so gut wie es eben ging. Bis zu einem bestimmten Punkt.
Vielleicht habe ich es doch nicht so gut hingekriegt wie ich gedacht habe?
Vielleicht habe ich mich wirklich zu sehr verändert und bin schuld an dieser ganzen Situation? Immerhin weiß meine Mum nicht, was später noch alles passiert ist. Und auch sonst keiner. Woher soll sie also wissen, warum ich mich Brian gegenüber so schräg verhalte?
Plötzlich spüre ich dieselben Schuldgefühle von vorhin aufkommen, doch dafür doppelt so stark. Ich hätte früher mit ihr reden sollen, und nicht so ein Angsthase sein sollen. Vielleicht wäre dann jetzt alles anders. Vielleicht wären die letzten fünf Jahre meines Lebens dann eh ganz anders gelaufen.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass meine Mum schon angefangen hat, mich schlecht zu behandeln, als wir kaum zwei Wochen hier in Helsinki waren. Und da kannte ich Samu noch nicht mal.
Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren und ich kann den verschiedenen Gedankengängen selber kaum folgen. Seufzend lehne ich meinen Kopf an die Lehne und schaue ein bisschen rüber zu Samu. Er hält weiterhin meine Hand, als wüsste er ganz genau, dass mich das ungemein beruhigt, und seine Augen sind auf die Straße fixiert. Normalerweise würde er sich jetzt aufregen, weil der Verkehr so dicht ist und natürlich lauter Idioten unterwegs sind, zumindest war das früher immer so. Aber heute ist er ganz still und ich sehe, dass sein Kopf rattert. Das ist kein Wunder, immerhin war das gerade ziemlich merkwürdig, und ich weiß selbst nicht, was ich dazu sagen oder denken soll. Mir ist aber auch klar, dass er eine Erklärung fordern wird. Und für diesen Moment bin ich wirklich nicht vorbereitet.

Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich bei Samus Haus ankommen, steigt meine Nervosität wieder. Plötzlich komme ich mir wirklich dumm vor, dass ich mich so schräg verhalte. Im Endeffekt habe ich meine Mutter nur darin bestätigt, dass ich immer vor meinen Problemen wegrenne. Sie hat irgendwo Recht, und das gefällt mir ganz und gar nicht. Mit jeder Minute die vergeht komme ich mir dümmer vor, und würde am liebsten alles rückgänging machen. Dazu müsste ich allerdings weit in der Zeit zurückgehen.
Samu parkt das Auto in seiner Garage und steigt schließlich aus. Ich wische mir mit dem Ärmel meiner Jacke über die Wange, auf der meine Tränen mittlerweile getrocknet sind, und steige schließlich auch aus.
Ich traue mich kaum, meinen Blick zu heben, doch als ich es doch tue, steht Samu vor mir und schaut mich leicht lächelnd an. Seine Augen strahlen so viel Wärme aus, dass ich fühle, wie meine Beine nachgeben, wenn ich mich nicht irgendwo festhalte. Womit habe ich das nur verdient.
Meine Hand krallt sich automatisch an den Türgriff und ich schaffe es, ein kleines Lächeln mit meinem Mund zu formen.
"Schon besser?", fragt er schließlich und hält mir wieder seine Hand hin. Gott. Nickend nehme ich sie und er führt mich schließlich durch die Garage bis zu der kleinen Tür, die ins Haus führt. Als er die Tür aufgeschlossen hat und wir schließlich in seinem Wohnzimmer stehen, sehe ich mich erstmal wieder um. Es hat sich nicht wirklich irgendwas verändert. Die Wände sind immer noch weiß, derselbe hölzerne Tisch vor Kopf, graues Sofa, und sein weißer Flügel in der Ecke.
Komischerweise fühle ich mich sofort wie zu Hause.
"Setz dich. Ich mache dir einen Kakao", sagt Samu schließlich und deutet schmunzelnd auf das Sofa. Ich nicke nur stumm und zwinge mich wieder zu einem Lächeln, ehe ich mich auf das Sofa pflanze und aus dem Fenster starre. In Samus Garten hat sich auch nichts geändert. Die Bäume auf seinem Rasen strahlen in ihrer grünen Farbpracht, die Blumen und der Pool sind ebenfalls noch da.
Es ist als wäre ich nie weg gewesen.
Während ich in meiner Sofaecke sitze und Samu in der Küche rumfuchtelt, schaue ich das erste Mal seit Stunden wieder auf mein Handy. Eine Nachricht von Alessia. Fünf Nachrichten von meinem Dad. Zehn verpasste Anrufe von meinem Bruder.
Ich seufze theatralisch und sperre den Bildschirm wieder. Alex ist ganz bestimmt ziemlich sauer auf mich. Mal davon abgesehen, dass die Feier schon vorbei gewesen ist, hätte ich dieses Gespräch wenigstens nicht so ausarten lassen müssen.
Ein paar Minuten später kommt Samu aus der Küche mit zwei Tassen in der Hand und setzt sich neben mich auf das Sofa, und drückt mir eine Tasse in die Hand.
"Danke", quetsche ich heraus und winkele meine Beine an. Er wird jetzt wohl wissen wollen, was los ist. Mit mir und auch meiner Mutter. Und vor allem mit Brian.
Doch unerwarteterweise schweigt er und nippt nur an seinem Kakao. Ich starre in meinen und schweige ebenfalls. Ich fühle mich, als würde ich ihm eine Erklärung schulden, doch ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll. Es ist nicht so einfach.
"Was willst du wissen?", frage ich schließlich, sobald ich all meinen Mut zusammenhabe und nochmal tief durchgeatmet habe. Samu hebt seinen Blick und sieht mich an. Ziemlich lange. Als würde er nachdenken. Als würde irgendwas davon abhängen, was er als nächstes sagt, und er müsste sich genau überlegen, was das ist.
"Du schuldest mir keine Erklärung."
"Doch, irgendwie schon."
"Warum?"
Tja, warum? Weiß ich auch nicht.
"Keine Ahnung."
Samu seufzt und stellt seine Tasse auf den Beistelltisch neben sich, ehe er sich zu mir dreht und mich ernsthaft anschaut.
"Du brauchst mir nichts zu erklären, was du nicht möchtest. Ich weiß ja, dass du dich nicht sonderlich mit Brian verstehst, und dementsprechend auch mit deiner Mutter nicht. Ich bin da für dich, wenn du reden willst, aber du schuldest mir keine Erklärung. Für nichts."
"Es ist nicht nur so, dass ich ihn nicht leiden kann. Da ist noch mehr", murmele ich und setze so den ersten Schritt in eine Richtung, die mir zwar Angst macht, aber in diesem Moment wohl nötig ist. Ich muss es endlich jemandem erzählen, denn andernfalls werde ich mich niemals wieder mit meiner Mutter verstehen, und das will ich wirklich nicht. Außerdem wird es mich wohl früher oder später auffressen, und ich wollte die Zeit hier eigentlich genießen so gut wie es eben geht.
"Was meinst du?"
Ich seufze tief und starre noch einen Moment in meinen Kakao, ehe ich den Blick wieder anhebe und anfange zu erzählen.

Fröstelnd ziehe ich meine Jacke enger um mich, in der Hoffnung noch ein bisschen mehr Wärme abzubekommen, doch vergeblich. Es ist tiefster Winter in Helsinki und ich friere wirklich. Der Wind peitscht um meine Ohren und ich bereue so sehr, keine Mütze mitgenommen zu haben. Es sind bestimmt minus fünf Grad. Wenn nicht sogar noch weniger.
Ich bin auf dem Weg zu dem Haus, in dem meine Mutter mit ihrem Freund Brian lebt, weil wir an Weihnachten hier waren und ich einige Dinge vergessen habe. Da ich eh heute in dieser Ecke von Helsinki bin, habe ich gedacht, ich gehe noch eben schnell dort vorbei.
Dieses Weihnachten ist alles etwas komisch gelaufen. Zwischen meinen Eltern herrschte bis vor kurzem eine Eiszeit, die sie aber durch das gemeinsame Weihnachtsessen wieder aufgelöst haben, doch die Stimmung ist trotzdem immer noch nicht gut. Osmo und Samu haben Unstimmigkeiten in der Band, die anscheinend nicht so einfach wieder zu regeln sind, weswegen beide dementsprechend schlecht gelaunt sind. Samu verbringt die meiste Zeit beim Sport und Osmo mit seiner Frau im Sommerhaus, mit der es aber auch nicht besonders gut läuft. Aus diesem Grund sehe ich keinen der beiden besonders oft, und zwischen Samu und mir bröckelt die Stimmung. Das liegt eher daran, dass kontinuierlich Journalisten hinter uns her sind und alle möglichen Dinge in den Nachrichten schreiben, die natürlich nicht stimmen. Ich ignoriere alles davon, denn das hat Samu mir früher immer geraten, falls es mal so kommen sollte, doch widererwarten scheint ihn das ganze ungemein zu stören. Er befiehlt Mikko sich bei den Agenturen zu beschweren, antwortet bockig auf Interviewfragen und scheint auch mit mir unglaublich gern darüber zu diskutieren. Ich kann natürlich verstehen, dass ihn das ein bisschen stört, aber es war ja zu erwarten. Früher oder später hätte irgendjemand von dieser Beziehung Wind gekriegt, und dieser Punkt ist eben gekommen. Es hat immerhin fast fünf Jahre gedauert, was bei dem Stalkertalent mancher Fans und der meisten Journalisten wirklich erstaunlich ist.
Da Samu außerdem dieses Jahr auch seine erste Staffel The Voice of Germany gedreht hat und die Band ein neues Album veröffentlicht hat, ist die Aufruhr um seine Person plötzlich an die Decke gegangen. Kein Wunder, dass jetzt auch jeder an seinem Liebesleben interessiert ist und die möglichst beste Story dazu veröffentlichen will. Es war von Anfang an klar.
Trotzdem macht das die Stimmung zwischen uns ziemlich angespannt und auch mit der Situation meiner Eltern wurde das Weihnachtsessen eine wirklich unangenehme Sache.
Als ich schließlich die Straße erreiche, in der meine Mutter wohnt, sehe ich von weitem schon das weiße Backsteinhaus mit Vorgarten und Garage. Davor steht ihr schwarzer VW, ein gutes Zeichen, denn ich habe vorher nicht gecheckt, ob sie überhaupt da ist. Ich bin auch völlig unangekündigt hier, was vielleicht nicht schlau ist, aber es war ja ein spontaner Einfall.
Als ich vor der Haustür stehe und klingele, pfeift ein eiskalter Windstoß um meine Ohren und ich fange an zu zittern. Man sollte meinen, dass ich die Kälte gewohnt bin, aber Fehlanzeige. Ich bin schon immer eine Frostbeule gewesen, die zu eitel ist sich in dicke, warme Kleidung zu zwingen, damit sie nicht friert. Welcome to my life. Der Grund für mein Ableben wird wahrscheinlich eines Tages der Erfrierungstod sein.
Es dauert gefühlt eine halbe Ewigkeit, bis ich endlich den Schlüssel im Schloss umdrehen höre und sich die dunkle Holztür langsam bewegt. Vor mir steht Brian, nassgeschwitzt und mit sichtbaren Schock in seinen Augen, denn sie sind weit aufgerissen. Ist es so eine Überraschung mich zu sehen?
"Ach du bist es nur", murmelt er und seine Augen werden wieder kleiner. Wow, was eine Begrüßung.
"Wow, danke", erwidere ich trocken und schniefe. Mein Gesicht fühlt sich an wie ein Eisklotz und als mich die Wärme des Hauses trifft, tut es auf einmal furchtbar weh, als würde es anfangen zu brennen. Brians abschätziger Blick macht es nicht besser. Warum zur Hölle ist dieser Typ so rot im Gesicht? Sport gemacht? Sonnenbadunfall? Zutrauen würde ich ihm zumindest einiges.
Die Tatsache, dass er mich nicht reinbittet, macht mich stutzig, denn so viel Anstand hat er normalerweise doch noch, auch wenn wir uns nicht besonders leiden können.
"Ist Mum da?", frage ich schließlich, unter anderem, weil ich bald erfriere, und mustere ihn. Die Tür ist nur einen Spalt offen, als würde er irgendwas verheimlichen. Ich komme mir dumm vor, wie jemand, der hier nicht hergehört. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, hier ohne Vorwarnung aufzukreuzen.
"Sie ist mit Freunden aus, kommt erst heute Abend wieder."
"Mit Freunden? Was ist für dich abends?"
Kann er keine präzisen Antworten geben? Es ist schon später Nachmittag, da ist die Angabe 'heute Abend' echt ungenau und macht mich irgendwie nervös. Als wäre hier irgendwas im Busch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass hier etwas Merkwürdiges vorgeht.
"Freunde von ihrer Arbeit. Sofia, Helmi, Anna...", versucht er die Namen aufzuzählen und ich ziehe fragend eine Augenbraue hoch. Anna kenne ich, den Rest habe ich noch nie gehört. Ist mir aber auch egal, sie kennt ja auch nicht alle meine Freunde.
"Sie hat nicht gesagt wann. Heute Abend eben", seufzt er und reibt sich die Stirn. Okay, er ist offensichtlich genervt, und irgendwie habe ich das Bedürfnis, ihn noch weiter zu nerven, aber ich glaube dann bringt er mich um, und ich wollte eigentlich noch ein bisschen leben.
"Hm, okay. Ich wollte nur meine Tasche holen", komme ich schließlich zum Punkt und sehe ihn erwartungsvoll an, und plötzlich sieht er sauer aus. Ok, alles was ich will, ist verschwinden, nach Hause, ins Warme. Warum zieht sich das hier solange?
"Hättest du nicht vorher Bescheid sagen können?", fährt er mich jetzt an und seufzt.
"Yep. Hätte ich tun können, habe ich aber nicht."
"Warum nicht?"
"Gib mir doch einfach meine Tasche, dann bist du mich ganz schnell wieder los und kannst mit dem weitermachen, was auch immer du hier gerade tust. Okay?", seufze ich frustriert und verschränke meine Arme. Er ist so anstrengend, was ist denn sein Problem?
Er starrt mich noch einen Moment stumm an, ehe er einen Schritt zurück geht und seine Hand zur Garderobe greift. Und da sehe ich plötzlich, was sein Problem ist.
Es ist blond, hat blaue Augen und trägt nicht besonders viel Kleidung.


Samu starrt mich mit weit geöffneten Augen an und sagt einen Moment lang nichts, weswegen ich einen Schluck von meinem Kakao nehme und dann wieder zu ihm schaue.
"Er hat deine Mum betrogen?", fragt er schließlich und ich nicke.
"Es ist eine Freundin von Mum gewesen."
"Als ob."
Er schaut immer noch ungläubig, und ich zucke mit den Schultern. Es ist so gewesen. Als die Tür ein Spalt aufging, stand im Türrahmen hinten eine blonde Frau, die ich zwar nicht persönlich kannte, aber schon mal auf einem Foto gesehen hatte. Und nachdem mir das ganze eh schon ziemlich komisch vorkam, wusste ich direkt, als ich sie gesehen habe, was Sache ist. Das braucht keine Erklärung mehr.
"Ihr Name ist Emma. Keine Ahnung, woher meine Mutter sie kannte, ob sie noch befreundet sind, und auch sonst weiß ich nichts über sie."
"Emma? Blond, schlank, immer zu viel Make Up drauf, und echt groß?", hakt Samu nach und ich ahne schreckliches.
"Ja. Genau die."
"Die war mal irgendwo, wo ich auch war. Ich weiß nicht mehr, irgendein Geburtstag oder so. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden noch befreundet sind."
"Na super", grummele ich und lehne meinen Kopf an die Rückenlehne, um teilnahmslos an die Decke zu starren. Naja, was habe ich erwartet? Da sie noch mit Brian zusammen ist und wohl keine Ahnung hat, dass er sie betrogen hat, oder es sogar immer noch tut, wird sie wohl auch kaum wissen, dass eine ihrer Freundinnen die andere Übeltäterin ist. Obwohl ich sagen muss, dass sie viel besser zu ihm passen würde, denn sie ekelt mich genauso an. Jeder Mensch der fremdgeht ekelt mich an.
"Was ist dann passiert?"
Und jetzt kommen wir zum kritischen Part der Geschichte, den ich eigentlich niemanden anvertrauen wollte. Aus Angst.
Doch jetzt bin ich hier und habe schon angefangen zu erzählen. Es ist zu spät um einen Rückzieher zu machen, und um ehrlich zu sein, bin ich froh, wenn ich es einfach mal laut aussprechen kann.
"Er hat mich bedroht."
Ich fühle mich direkt, als würden tausende Kilos von meinen Schultern genommen werden. Irgendwie leichter. Und das nur ausgelöst durch einen kurzen Satz.
Samu steht die Verwirrtheit ins Gesicht geschrieben, und ich muss ein bisschen lachen. Das sieht echt goldig aus, auch in dieser Situation. Doch ihm scheint nicht so nach Lachen zu Mute zu sein, denn die Verwirrtheit schlägt in Schock um.
"Bitte was?", murmelt er schließlich und schüttelt sich kurz. "Echt jetzt?"
"Ja."
"Wie? Wann? Warum hast du nichts gesagt? Hast du ihn angezeigt?"
"Natürlich nicht, sonst wäre ich ja jetzt nicht in dieser Situation", seufze ich und wünsche mir innerlich, dass ich es doch getan hätte. Wahrscheinlich hätte ich mir damit einiges erspart. Den Streit mit meiner Mutter. Die konstante Nervosität, wenn es um Brian geht. Vielleicht sogar meine Beziehung zu Samu.
Für das Ende dieser waren allerdings mehrere Dinge verantwortlich, und das hatte nicht viel damit zu tun. Trotzdem. Vielleicht hätte ich mich Samu einfach damals schon anvertrauen sollen, immerhin ist es das, was eine Beziehung ausmacht. Dass man keine Geheimnisse voreinander hat. Tja, das hat von meiner Seite aus wohl nicht so gut geklappt.
"Wieso nicht?"
Gute Frage.
"Weil ich Angst hatte."
"Weil er dir gedroht hat?"
Ich nicke nur und sehe ihn vorsichtig an. Seine Stirn ist in Falten gelegt und seine Augen mustern mich kritisch. Keine Ahnung, wie ich das einordnen soll. Ich schätze er ist einfach total verwirrt. Ich hoffe nur er glaubt mir wenigstens, denn ansonsten weiß ich nicht, wie ich hier wieder rauskomme.
"Warte mal. Ich komme nicht ganz mit. Womit hat er dir gedroht?", fragt der Finne schließlich und ich seufze. "Tut mir leid, wenn du darauf nicht antworten willst, aber ich verstehe das gerade nicht so ganz."
"Mit einem Messer", antworte ich ehrlich und denke zurück an den Moment. Das war echt ein Moment, den ich wohl nicht mehr vergessen werde. Ich habe irgendwie gelernt damit zu leben, doch wenn ich genauer darüber nachdenke, wird mir wieder ganz komisch. Vor allem weil meine Mutter jetzt weiß, dass etwas im Busch ist, und Brian auch noch dabei war und alles mitbekommen hat. Naja mehr oder weniger.

"Mit einem Messer?", hakt er ungläubig nach. Wieder nicke ich.
"Das ist nicht am selben Tag passiert. Als ich sie gesehen habe, habe ich mir meine Tasche genommen, und bin gegangen, ohne noch mal hinzuschauen. Ich war ziemlich verwirrt in dem Moment, und hatte echt keine Lust mich weiter mit ihm rumzuschlagen oder sogar noch darüber zu diskutieren, was ich gesehen habe. Brian ist schon immer ein Arsch gewesen, und um ehrlich zu sein, hat es mich nicht mal gewundert, dass er sowas tut. Aber in diesem Moment ist es dann eben...merkwürdig", erzähle ich und schaue Samu dabei die ganze Zeit in die Augen. Er verdient die Wahrheit zu erfahren und ich fühle mich irgendwie sofort besser, sobald ich die Worte laut ausspreche. Doch er soll sicher sein, dass ich es ernst meine und keine Lügen erzähle. Obwohl er das wahrscheinlich eh nicht glauben würde.
"Aber ich glaube zwei oder drei Tage danach waren die beiden wieder bei uns zu Besuch. Das war kurz nach Weihnachten."
"An Silvester?", hilft Samu mir auf die Sprünge und ich nicke.
"Da war ich auch", murmelt er. Ja, das war er. Und leider war er im entsprechenden Moment nicht anwesend. "Und da hat er dich mit einem Messer bedroht?"
"Ja", nicke ich wieder und habe schon wieder Tränen in den Augen, doch ich blinzele sie weg. Es klingt wie ein schlechter Krimi oder irgendeine von diesen Familiendramen, die um 18:00 Uhr im Fernsehen laufen, aber nein. Es ist mein Leben, oder zumindest ein dunkler Zeitpunkt meines Lebens.
"Er hat gesagt, wenn ich irgendwem etwas sage, werde ich es bereuen. Und noch ein paar Sachen, an die ich mich schon gar nicht mehr erinnere", erzähle ich schließlich weiter. Es waren lauter Drohungen, die er mir an den Kopf geworfen hat. Während ich ein Messer am Hals hatte. Vorher dachte ich, sowas passiert immer nur in Filmen. Aber irgendwo müssen die Filmvorlagen ja herkommen. Samu sieht mich sprachlos an und ich weiche seinem Blick aus. Einerseits, weil ich nicht wirklich wissen will wie er reagiert, andererseits weil ich Tränen in den Augen habe. Ich erinnere mich echt nicht gerne daran, und habe es immer irgendwie verdrängt.
"Und das hat er gemacht, während alle anderen anwesend waren?"
Wieso beschleicht mich das Gefühl, dass er mir nicht glaubt?
"Glaubst du mir nicht?", hake ich also vorsichtig nach und schaue ihn jetzt doch an. Mit dieser Frage scheint ihm alles aus dem Gesicht zu fallen.
"Natürlich glaube ich dir. Warum sollte ich dir nicht glauben? Ich bin nur sehr überrascht gerade und würde das gern irgendwie verstehen."
Na gut, das klingt logisch.
"Wir hatten doch dieses Bleigießset, weißt du noch? Ich sollte es holen, als es kurz vor Mitternacht war, da wart ihr schon alle draußen."
Samu nickt nur und dreht sich schließlich ein bisschen von mir weg, um aus dem Fenster zu schauen. Wahrscheinlich muss er das erstmal verarbeiten.
"Ich verstehe einfach nicht, warum du mir nie etwas davon erzählt hast. Ich meine, denkst du vielleicht, ich hätte das irgendwem erzählt?"
"Ich hatte Angst, dass du mich dazu bringen würdest, zur Polizei gehen."
Jetzt zieht er seine Augenbrauen hoch und sieht mich doch wieder an.
"Du weißt genau, dass ich sowas nicht tun würde. Ich hätte dir vielleicht gesagt, dass das besser wäre, aber im Endeffekt ist es deine Entscheidung, und wenn du es nicht gewollt hättest, hätte ich das akzeptiert."
Jetzt habe ich ihn glaube ich verletzt. Das ist nicht unbedingt meine Intention gewesen. Hoffentlich kann er mir das verzeihen, denn ich habe definitiv nicht extra so gehandelt. Ich konnte mich einfach nie überwinden. Ich kann aber auch verstehen, wenn er jetzt sauer ist. Oder enttäuscht. Oder beides.
"Ich dachte eigentlich, dass du mir alles erzählst, weil wir, naja. Ein Paar waren. Und schon lange zusammen. Und das ist ja nicht gerade etwas, was man einfach unter den Tisch kehren kann. Und selbst wenn ich dir mit ihm an sich nicht helfen hätte können, hättest du das zumindest nicht alleine durchmachen müssen. Denn du scheinst, als würde dich das die ganze Zeit nicht loslassen. Und es ist ja schon eine Zeit lang her. Vielleicht wäre es gut gewesen, jemanden zu haben, mit dem du reden kannst. Und ich dachte eigentlich, dass ich damals so eine Person für dich gewesen bin."
Er hat ja recht, und jetzt im Nachhinein fühle ich mich auch ein bisschen dumm.

"Es tut mir leid."
"Es muss dir nicht leidtun. Das ist deine eigene Entscheidung, ich sage nur, dass ich für dich da gewesen wäre, und nicht ganz verstehe, warum du das nicht genutzt hast."
Er ist sehr ernst geworden und die Tränen in meinen Augen wollen sich auf keinen Fall zurückbilden, eher im Gegenteil. Bald kann ich sie nicht mehr zurückhalten.
"Ich habe schon ein paar Mal daran gedacht, es dir zu sagen, aber es gab einfach zu viele Dinge, die mich davon abgehalten haben."
Er zieht verwirrt die Augenbrauen hoch. Wow, meine Wortwahl ist heute auch schon wieder interessant. Kein Wunder, wenn er sauer auf mich wird, was tue ich denn hier?
"Mit uns beiden lief es ja nicht so gut. Und ich hatte manchmal das Gefühl, dass..." ich holte kurz Luft und sah ihm dann tapfer in die Augen. "..., dass ich dich nerve. Wir haben uns eh schon nie gesehen und wenn, dann haben wir immer nur über irgendwelche Dinge diskutiert."
"Was? Du hast mich doch nicht genervt", sagt er jetzt überrascht und scheint einen Moment nach Worten zu suchen, doch keine zu finden. Gut, spätestens jetzt habe ich ihn doch getroffen. Ich sehe deutlich, dass er ein bisschen verletzt ist, und es tut mir direkt unglaublich leid. Warum bin ich auch so ein Trampel?
"Tut mir leid", wiederhole ich mich und seufze. "Ich hatte einfach das Gefühl und irgendwie...naja. Das ist noch nicht alles."
Noch ein großer Schritt für mich.
"Was denn noch?", fragt Samu und erwartet wahrscheinlich, dass ich ihm noch so etwas an den Kopf werfe. Als ich in meinem Kopf die Worte forme, merke ich schon, dass der Kloß in meinem Hals größer wird und sich erneut Tränen in meinen Augen sammeln. Reiß dich zusammen, Aurora, und sag es endlich.
"Er hat mich danach noch oft genug daran erinnert, dass ich meinen Mund halten soll. Auch nachdem wir uns schon getrennt haben", murmele ich und schluchze schließlich leise. Noch etwas, was ich immer verdrängt habe, was jetzt aber rauskommt. Keine Ahnung, ob ich überhaupt schon bereit bin, die Wahrheit zu sagen.
"Was hat er gemacht? Hat er dich noch öfter bedroht?", fragt er, jetzt wieder besorgt, und ich schüttele langsam den Kopf, ehe ich meinen Blick senke und meine Beine an meinen Körper ziehe. Einen Moment lang sagt keiner von uns etwas, denn Samu scheint darauf zu warten, dass ich sage was los ist, und ich bin nicht in der Lage es laut auszusprechen. Doch anscheinend kann er noch immer meine Gedanken lesen.

"Hat er dich angefasst?" Seine Stimme ist fast ein Flüstern und ich muss endgültig anfangen zu schluchzen, als seine Stimme ausklingt. Plötzlich scheint mir umso mehr klar zu werden, was mir da eigentlich passiert ist, und warum ich im Endeffekt wirklich gegangen bin. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.
Ich nicke schließlich zaghaft und höre, wie Samu scharf die Luft einzieht. Damit hat er jetzt nicht gerechnet. Naja, das hat wohl keiner, immerhin habe ich geschwiegen wie ein Grab.
"Noch mehr als das?", fragt er zaghaft und ich merke, dass er jetzt weiß, dass es nicht einfach ist für mich darüber zu reden. Ich schüttele den Kopf. Er hat mich des Öfteren auf eine ekelhafte Art und Weise angefasst, über die ich nicht weiter nachdenken möchte. Nicht nur das, manchmal hat er mich auch so angefasst, dass er mir unglaublich weh getan hat, und man noch ein paar Tage später die Striemen an meinem Arm gesehen hat. Es war eine ganze Sammlung an Erinnerungen daran, dass ich meinen Mund halten sollte. Und es hat gewirkt.
"Weißt du, das...", murmele ich und schniefe. "...das war der Grund, warum ich im Endeffekt geflüchtet bin. Er ist so ekelhaft und ich habe es nicht mehr ausgehalten."
"Warum hast du denn nichts gesagt, um Gottes Willen", sagt Samu mehr zu sich selbst als zu mir und sieht mir schließlich in die Augen. Und das trifft mich wirklich hart. Er hat auch schon Tränen in den Augen, und sieht mich mit diesem herzzerbrechenden Blick an. Ich kann dem nicht standhalten.
"Keine Ahnung", flüstere ich, ehe die Tränen schließlich rauskommen und ich es nicht mehr bei mir halten kann. Schniefend vergrabe ich meinen Kopf in meinen Knien und schlinge meine Arme um diese. Ich weiß einfach nicht, was da damals passiert ist und warum ich immer geschwiegen habe. Samu hätte mir doch geholfen. Ich hätte auch mit meinem Dad reden können, jeder hätte mir geholfen. Und vielleicht wäre eine Anzeige gar nicht so schlecht gewesen. Doch die Angst hat mich einfach viel zu sehr im Griff gehabt. Plötzlich fühle ich mich unglaublich schlecht und würde am liebsten im Erdboden versinken, während ich leise vor mich hin weine.

Doch dann spüre ich, wie sich erst ein Arm um mich legt, dann auch der andere, und Samu mich vorsichtig an seine Brust zieht, um mich schließlich ganz fest an sich zu drücken. Als ich Samus Wärme spüre und seinen Herzschlag an meinem Ohr höre, schließe ich meine Augen und atme tief ein und aus. Die Tränen laufen nur so und ich denke, alles was ich die letzten Jahre zurückgehalten habe, kommt jetzt raus. Doch es fühlt sich irgendwie unbeschreiblich gut an. Er scheint mich nicht mehr loslassen zu wollen und ich drücke mein Gesicht noch mehr an ihn. Es hat ein bisschen therapeutische Wirkung. Er streicht sanft über meinen Rücken und hat seinen Kopf auf meinen Schultern abgelegt. Es fühlt sich an wie früher. Ich fühle mich aufgehoben, und alle die schlechten Erinnerungen verschwinden langsam irgendwohin, wo sie mich nicht nerven können. In diesem Moment fühle ich nur Samus Wärme, und das ist alles was ich brauche.

"Danke, Samu", murmele ich nach einer Weile, in der wir nur still dasaßen und ich in sein Shirt geweint habe, und löse mich schließlich ein bisschen von ihm, sodass ich ihm in die Augen schauen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich echt schlimm aussehe in diesem Moment, aber es ist mir irgendwie egal. Er hat mich schon schlimmer erlebt, und außerdem hat mein kleiner Anfall auch zur Folge, dass ich mich endlich jemandem geöffnet habe, und die riesige Last auf meinen Schultern plötzlich verpufft zu sein scheint. Natürlich ist das etwas, was man nicht einfach so loswerden kann, aber es überhaupt mal jemandem mitgeteilt zu haben, ist ein großer Schritt für mich, und es fühlt sich großartig an.
Mit meinem Ärmel wische ich die Tränen aus meinem Gesicht und versuche mich schließlich an einem Lächeln, was Samu nur mit dem Hochziehen seiner Augenbraue und einem verschmitzten Grinsen erwidert, welches mich endgültig zu einem echten Lächeln bringt.

Afterglow [18+]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt