"Ich kann nicht glauben, dass er dich rumbekommen hat."
Mein Bruder steht mit verschränkten Armen im Türrahmen und starrt mich kopfschüttelnd an, während ich neben meiner Mum sitze und mein Müsli esse. Es ist schon spät abends und eigentlich wollte ich schon lange schlafen gehen. Hätte ich das lieber mal gemacht.
Langsam hebe ich den Kopf und sehe ihn verwirrt an. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht, und sein Blick gibt mir auch keinerlei Auskunft darüber, was er meinen könnte. Meine Mutter schaut ebenfalls ziemlich verwirrt zu ihm, ehe sie das Wort ergreift.
"Wer hat wen rumgekriegt?", fragt sie und legt die Zeitung zur Seite, die sie bis gerade eben gelesen hat.
"Samu", antwortet mein Bruder nur knapp und mir wird ganz anders zumute. Nachdem Samu mich letztens geküsst hat und meine Mum uns erwischt hat, hat sie ihn erstmal ordentlich zusammengepfiffen, bevor sie ihn endgültig rausgeschmissen hat. Sie war nicht ziemlich glücklich darüber gewesen, und hatte mir, auch nachdem er gegangen war, noch einen Vortrag darüber gehalten, dass ich ihn gar nicht kenne und mich von ihm fernhalten soll. Doch ich bin zu diesem Zeitpunkt schon so verliebt gewesen, dass es mir egal war, was sie gesagt hat. Sie hätte alles sagen können, es hätte mich nicht interessiert. Und genau deshalb kamen Samu und ich zwei Tage später auch offiziell zusammen. Bisher habe ich es gut verstecken können, doch anscheinend hat mein Bruder jetzt doch Wind davon bekommen. Ich hoffe Samu hat es nicht verraten.
"Was ist mit Samu?", frage ich und tue, als wüsste ich nicht was er meint. Keine Ahnung, warum ich das tue, es hat eh keinen Zweck.
"Du weißt genau was ich meine." Natürlich weiß ich, was er meint.
"Können wir woanders darüber reden?", grummele ich, doch meine Mutter fährt dazwischen.
"Moment mal, das werdet ihr nicht woanders besprechen. Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten."
Jetzt ist ihr Ton von Verwirrtheit in Wut umgeschlagen und ich sehe sie ein bisschen eingeschüchtert an. Danke, Brüderchen. Das hätte er natürlich nicht privat mit mir besprechen können. Nein, es muss vor unserer Mum sein, und am besten kommt mein Dad gleich auch noch dazu. Obwohl der Samu ziemlich mag und wahrscheinlich kein so großes Problem damit hätte. Wie eigentlich immer.
"Oder hat er dich gezwungen?"
"Was?", finde ich jetzt meine Sprache wieder und schaue meine Mum irritiert an. "Natürlich nicht, was denkst du denn von ihm?"
Als ob sie wirklich glaubt, dass er mich zu irgendwas zwingt.
"Was ich denke? Ich denke, dass er bedeutend älter ist als du, auch wenn er sich benimmt wie Zwölf. Das ist unnormal", murmelt sie und schaut mich mit ihrem strengen Blick an. Ich hasse diese Seite an ihr. Sie lässt mich fühlen als wäre ich ein kleines Kind.
"Alex, was hast du denn erwartet? Sie ist deine kleine Schwester. Wenn du sie mit solchen Leuten zusammenbringst..."
"Ehm, bitte?", macht Alex jetzt etwas empört. "Sie versteht sich nun mal gut mit Osmo und den anderen, was soll ich dagegen sagen? Ich kann doch nicht wissen, dass Samu sie gleich um den Finger wickelt."
"Hast du ihn dir mal angeschaut? Natürlich fällt sie darauf rein."
Jetzt fühle ich mich ein bisschen fehl am Platz. Sie reden über mich, als wäre ich nicht hier. Und so, als wäre ich ein kleines Kind. Und soll überhaupt dieses 'Natürlich fällt sie darauf rein? ' Meine Mutter schaut Alex wütend an, und ich wette in diesem Moment bereut er, dass er das ganze vor ihr angesprochen hat und mich nicht einfach allein zur Rede gestellt hat. Das wäre für uns beide angenehmer gewesen.
"Hallo. Ich bin noch hier", räuspere ich mich und erinnere sie daran, dass sie nicht allein sind. "Woher weißt du das überhaupt?"
Alex sieht mich wieder an und seufzt schließlich.
"Ich war gerade bei Samu und er hat gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. Ich weiß, das tut er immer, aber eben noch mehr als sonst. Nachdem, was letzten Abend passiert ist, konnte ich mir zusammenreimen was passiert ist. Er musste gar nichts sagen, ich bin ja nicht dumm", klärt mein Bruder mich auf und ich starre ihn ungläubig an. Und woher weiß er jetzt was da letztens passiert ist? Soweit ich weiß, war nur meine Mum anwesend. Mein Dad hatte sich ja zuvor schon ins Bett verabschiedet. Irgendwie verstehe ich die Welt nicht mehr.
"Also seid ihr jetzt zusammen oder was?", hakt meine Mum forsch nach, weil ich gar nichts sage und Alex mich auch nur erwartungsvoll anschaut. Was soll ich denn jetzt sagen? Ja? Sie wird mich umbringen. Oder Samu. Immerhin hat sie ihm letztens schon ordentlich die Meinung gesagt.
"Oh mein Gott, wie alt ist er?", fragt sie, nachdem ich immer noch nichts sage. "Vierzig?"
"Mum, er ist jünger als ich", klinkt mein Bruder sich wieder ein und legt seine Stirn in Falten. Jetzt stellt sie sich wirklich bescheuert an, so alt sieht er jetzt wirklich nicht aus.
"Aber nicht viel! Das ist immer noch zu alt."
"Wow danke."
"Komm schon, du weißt was ich meine."
"Keine Ahnung, Mum. Ich glaube er mag sie wirklich, er schien aufrichtig", sagt mein Bruder schließlich und zuckt mit den Schultern. Danke, Brüderchen. Warum haut er mich erst in die Pfanne und jetzt ist er doch auf meiner Seite? Ich verstehe immer noch nicht so richtig, was hier gerade passiert. Das erklärt auch meine Sprachlosigkeit.
"Klar", sagt sie nur und schüttelt verachtend den Kopf. Ich weiß, dass sie ihn nicht mag, und das wird sich vermutlich auch nicht so schnell ändern, jetzt erst recht nicht. Aber sie muss es wenigstens akzeptieren, denn ich mag ihn wirklich und ich will es nicht versauen.
"Mum", mache ich jetzt und warte, bis sie ihren Blick hebt und mich anschaut. "Ich mag ihn wirklich gern. Also wenn du das nicht tust, okay, aber ich tue es, und ich würde mich freuen, wenn du ihm wenigstens eine Chance gibst."
Jetzt schaut sie mich nur noch mit diesem leeren Blick an, den sie immer draufhat, wenn sie kein Argument mehr hat oder einfach nicht weiß, was sie noch sagen soll, und das ist mir immer noch lieber, als wenn sie mich wieder grundlos anschreit.
"Wenn du meinst. Aber wenn er dir was tut, bringe ich ihn um."
-
"Als ich Alex das erste Mal gesehen habe, habe ich gedacht: Wow, dem will ich echt nicht nachts auf der Straße begegnen. Ein paar Wochen später hat er mir das erste Mal eine gescheuert, weil ich mich in seine Schwester verliebt habe. Und das war der Beginn einer wunderbaren Männerfreundschaft."
Samu grinst und die Leute fangen an lauthals zu lachen. Auch ich muss schmunzeln. Jeder der meinen Bruder kennt, weiß was Samu meint. Und ja, mein Bruder war nicht sehr glücklich, als er damals von Samu und mir erfahren hat. Nachdem Samu aber versprochen hat, mich gut zu behandeln, hat er sich relativ schnell eingekriegt, und die beiden sind über die Zeit sehr, sehr gute Freunde geworden. So gut, dass Alex Samu sogar als seinen Trauzeugen auserkoren hat, und der jetzt dort steht und eine Rede für meinen Bruder und seine Braut hält. Der zweite Tag der Hochzeit, und auch der wichtigste der drei Tage, hat schon den späten Nachmittag erreicht, und die Gäste sind bereits in bester Laune, was wahrscheinlich an dem Sektempfang liegt, den wir gleich nach der Trauung hatten. Manche Menschen schlagen ja gern direkt über die Stränge, aber hier verlief bis jetzt zum Glück alles noch normal. Nach der Trauung, die wunderschön gewesen ist und bei einigen, inklusive mir, Tränen hervorgeholt hat, wurden Fotos gemacht. Erst vom Brautpaar selbst, dann auch der Rest der Familie. Alex hat auch darauf bestanden, mit jedem einzelnen Familienmitglied ein einzelnes Foto zu machen, weswegen das Ganze eine Weile gedauert hat. Danach wurde die Hochzeitstorte angeschnitten und mittlerweile sind wir bei den Reden angekommen. Nachdem mein Dad uns schon moderativ durch den ganzen Tag geführt hat, konnte er es auch nicht lassen und hat zusammen mit Mari eine wirklich rührende Rede gehalten. Das ist schon das zweite Mal gewesen, dass ich weinen musste, denn es war wirklich herzergreifend. Normalerweise bin ich ja nicht so nah am Wasser gebaut, aber wenn es um sowas geht, kann selbst ich mich nicht mehr zurückhalten.
Samu hat dann – ganz der Gentleman – der Trauzeugin Vorrang bei der Trauzeugenrede gegeben, und sie hat sich wirklich Mühe gegeben, ein paar alte Geschichten über Daria heraus zu kramen. Ich musste wirklich viel lachen, vor allem, weil ich Daria ja noch nicht gut kenne und so konnte ich mir ein besseres Bild von ihr machen.
Jetzt ist Samu an der Reihe und während auch er ein paar lustige Geschichten von damals erzählt, habe ich endlich mal Zeit, ihn ungestört anzusehen. Er ist wirklich wie gemacht für diese Aufgabe, denn jeder hier lacht über seine Witze und scheint sich prächtig zu amüsieren, und er ist voll in seinem Element. Man sollte meinen, dass er auf Grund seines Jobs auch daran gewohnt ist, die Leute zu unterhalten, doch ich habe gesehen, dass er den ganzen Tag über ziemlich nervös gewesen ist. Und das mit gutem Recht. So eine Hochzeitsrede ist gar nicht so einfach, und ich bin wirklich froh, dass Alex mich nicht gefragt hat, ob ich auch noch eine halte, ich kann sowas nämlich gar nicht. Das wäre auch irgendwie merkwürdig gewesen, immerhin bin ich die letzten Jahre nicht hier gewesen und kann nicht viel über die Beziehung von ihm und Daria sagen. Natürlich hätte ich es trotzdem versucht, wenn mein Bruder mich darum gebeten hätte. Samu hingegen hat da einiges auf Lager, und als er schließlich fertig ist, klatschen die Leute laut, und das Brautpaar ist merkbar am Lachen. Auch ich komme nicht mehr aus dem Grinsen heraus, was mir natürlich mal wieder einen vielsagenden Blick vom anderen Ende des Tisches sichert. Dort sitzt Mari, neben meinem Dad, und neben meinem Dad sitzen meine Mum und Brian. Ich habe heute noch kein Wort mit ihr gesprochen, nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich einfach noch nicht dazu gekommen bin. Das Programm ist immerhin breit gestaffelt und es wird wahrscheinlich erst im Laufe des Abends Zeit für längere Gespräche geben. Doch so wie ich es sehe, hat meine Mum sich kaum verändert. Sie hat nach wie vor lange, blonde Haare, und sieht noch genauso hübsch aus wie damals. Das muss ich ihr lassen.
Ich habe auch sonst mit noch niemandem groß Worte ausgetauscht. Samu war den ganzen Tag mit dem Brautpaar beschäftigt, mein Dad hat moderiert, mein Bruder war selbstverständlich auch die ganze Zeit eingespannt. Nur Mari war zwischendurch mit mir zusammen. Es sind auch viele Leute da, die ich noch aus Norwegen kenne, eben alte Freunde von Alex, und viele Leute, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Im Großen und Ganzen bin ich beeindruckt, wie sie es geschafft haben, so viele Leute hier in den Garten zu bekommen, ohne dass es überfüllt ist. Klar, der Garten ist schon groß, aber die Menge an Menschen eben auch.
Samu's Mum Eve und ihren Freund habe ich auch schon entdeckt, doch sie sitzt an einem anderen Tisch und hat mir den Rücken zugewandt. Sie trägt ein schwarzes langes Kleid und sieht wunderschön aus, wie immer eigentlich. Zwischendurch habe ich mich heute schon ein bisschen verloren gefühlt, da ich hier auch irgendwie ohne Begleitung sitze, aber meistens war ich so beschäftigt mit dem Programm, dass ich nicht viel Zeit hatte darüber nachzudenken. Außer jetzt.
Samu setzt sich schließlich wieder auf seinen Platz, der mir fast gegenüber liegt, und ich strecke ihm lächelnd beide Daumen nach oben entgegen, aber nur so gerade eben über der Tischplatte, dass es niemand sieht. Er grinst breit und mir wird ganz warm ums Herz. Wenn er nur wüsste, was in mir vorgeht, wenn er das tut. Mari weiß das auf jeden Fall, denn so wie sie mich dauernd anschaut, scheine ich ja sehr offensichtlich zu sein. Auch jetzt ist ihr Blick wieder sehr eindeutig.
Mein Dad, der nach Samu wieder die kleine Bühne betreten hat, eröffnet schließlich das Buffet und nach dem Brautpaar stürzen sich viele Person auf das Essen, welches wir etwas am Rand des Gartens aufgebaut haben, damit es nirgendwo im Weg steht. Ich entscheide, zu warten bis der Ansturm vorüber ist, und schaue nachdenklich durch die Gegend, bis mein Blick an meiner Mum hängen bleibt. Sie schaut mich an, und als sie merkt, dass ich sie ebenfalls anschaue, lächelt sie zaghaft. In diesem Moment finde ich es schade, dass wir so auseinander gegangen sind. Doch mit allem, was ich mit Brian erlebt habe, konnte ich ihr einfach nicht mehr in die Augen schauen. Und außerdem hat sie sich seit wir damals nach Finnland gekommen eh total komisch mir gegenüber benommen. Ich frage mich, ob sie Samu immer noch so sehr hasst, wie damals. Nachdem wir uns getrennt haben, schien es ja besonders schlimm gewesen zu sein, aber jetzt? Es ist immerhin fünf Jahre her und er scheint mehr in meine Familie integriert zu sein als ich selber.
Dieser scheint ebenfalls den Ansturm abzuwarten, denn er sitzt auch auf seinem Stuhl und faltet nachdenklich die Serviette, die bis gerade eben noch vor ihm lag, in irgendwelche komischen Formen und Figuren. Er sieht heute wirklich unglaublich gut aus. Er trägt einen weinroten Anzug mit einer cremefarbenen Krawatte und cremefarbenen Schuhen. Seinen Pony hat er ein bisschen über die Seite gekämmt, doch seine Haare sind immer noch verwuschelt. Er sieht einfach gut aus, was anderes kann man nicht sagen, und wieder klopft mein Herz vor lauter Aufregung. Augenblicklich versuche ich, meinen Puls zu kontrollieren, doch vergeblich. Es geht einfach nicht.
Als er aufschaut und merkt, dass ich ihn anstarre, fängt er sofort an zu grinsen, worauf meine Wangen auf einmal anfangen, wie Feuer zu brennen. Na toll. Mich unauffällig zu verhalten, hat ja mal wieder gut geklappt. Erschrocken senke ich schnell meinen Blick, schließe meine Augen ungläubig, und schiele wieder hoch. Er grinst mich immer noch an, und er sieht so unverschämt gut dabei aus, dass ich auch grinsen muss. Ich hoffe, Mari hat das nicht gesehen. Sonst muss ich mir bestimmt einiges anhören.
Schließlich stehe ich immer noch peinlich berührt vom Tisch auf und beschließe, mir etwas zu essen zu holen. Am Buffet angekommen, schaue ich erstmal auf die Karte. Es gibt wirklich eine riesengroße Auswahl, dafür dass wir (im Gegensatz zu anderen Hochzeiten) gar nicht so viele Leute sind. Es ist für wirklich jeden was dabei. Fleisch, Fisch, vegetarisch, sogar vegan. Eine nicht so verbreitete Lebensweise in den skandinavischen Ländern, obwohl es in den letzten Jahren doch mehr geworden ist.
"Du siehst wunderschön aus", haucht mir auf einmal eine tiefe Stimme ins Ohr, und ein Schauer zieht sich über meinen gesamten Rücken. Noch ehe ich mich umdrehen und irgendwas sagen kann, hat Samu sich schon auf die Teller gestürzt und zwinkert mir nur einmal schelmisch zu. Ich frage mich wirklich, was er mir mit seinen ganzen Anspielungen in den letzten Tagen sagen will. Ich meine, will er einfach nur nett sein? Oder macht sein Herz auch Sprünge, wenn er mich sieht? Ich werde nicht schlau daraus, doch ich kann auch nicht leugnen, dass ich mich wirklich gut dabei fühle. Ein bisschen zu gut, wenn ich darüber nachdenke.
Ich forme ein 'Danke' mit meinen Lippen und lächele ihn an, bevor ich mich auch an der nicht ganz so langen Schlange anstelle. Wieder ertappe ich mich dabei, wie ich ihn anstarre, diesmal aber seinen durchaus sehr breiten Rücken, der ein paar Meter vor mir steht. Er hat wirklich viel Kraftsport gemacht in den letzten Jahren, das ist unverkennbar.
Ehe ich mich versehen kann, schnappe ich mir auch einen Teller und gehe das Buffet durch. Ich entscheide mich am Ende für verschiedene Arten von Karjalanpirakka, Gemüsepaella und ein Schälchen Avocado-Mango Salat. Unterstützend zu meiner Auswahl fängt auch mein Magen an zu grummeln und ich begebe mich seufzend zu meinem Platz zurück, wo ich sofort anfange zu esse. Es schmeckt wirklich ziemlich gut. Der Caterer ist eine gute Auswahl gewesen. Manche Sachen hat Mari auch selbst gemacht, aber das meiste kommt natürlich von einem Caterer. Diese Menge an Essen kann ja unmöglich eine Person alleine zubereiten.
Die meisten sind schon fertig oder haben sich schon Nachschlag geholt, weswegen auch bald die Gespräche am Tisch losgehen. Während Daria und Alex sich mit meiner Mum unterhalten, verwickelt mein Dad Samu in ein Gespräch über seine Rede. Natürlich auf Finnisch, weswegen ich kaum folgen kann, und nur stumm auf meinem Essen rumkaue. Ich muss wirklich Finnisch lernen. Ich bin gerade mal drei Tage hier und schon genervt davon wie wenig ich eigentlich verstehe. Andererseits bin ich die letzten Jahre ja eh nicht hier gewesen, weswegen ich nicht wirklich das Bedürfnis hatte, es zu lernen. Nie. Auch nicht davor.
Mari, die ebenfalls in ein Gespräch verwickelt ist, schaut immer wieder zu mir rüber, und macht komische Andeutungen in Samus Richtung, die ich nicht richtig deuten kann, doch sagen tut sie auch nichts. Wer weiß, was sie wieder vorhat.
Plötzlich fühle ich mich ziemlich einsam, und ich weiß nicht genau warum. Ich bin umgeben von meiner Familie und auch wenn ich sie alle nur mäßig verstehe, sind sie immerhin da. Und das hier ist auch nicht mein großer Tag, sondern Alex'. Doch sie lachen und machen Scherze, während ich nur hier sitze und versuche irgendwelche Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Samu hebt zwischendurch seinen Blick und lächelt mich an, doch mein Dad scheint ihm irgendetwas aufregendes zu erzählen, weswegen es auch dabeibleibt. Vielleicht musst du einfach mal von selber was sagen.
Einfacher gesagt als getan.
Leise seufzend esse ich schließlich den Rest von meinem Teller auf und bin wirklich pappsatt. Wenn ich gleich wirklich noch tanzen muss, wird mir wahrscheinlich schlecht, weil ich viel zu viel gegessen habe.
Nachdem Darias Oma mich schließlich angequatscht hat geht die auf einmal ganz schnell um. Ich erzähle ihr von Norwegen und meinem Besuch hier, sie erzählt mir mehr Geschichten von Daria und wie sie Alex das erste Mal kennengelernt hat, und irgendwie verstehe ich mich richtig gut mit ihr. Sie kommt aus dem schwedisch-sprechenden Teil von Finnland und kann daher auch relativ gut norwegisch, was sich irgendwie familiär für mich anfühlt. Und während wir uns über lustige Wörter austauschen, die in beiden Sprachen zwar gleich klingen aber eine andere Bedeutung haben, geht der Abend hin. Plötzlich steht mein Dad wieder auf der Bühne.
"Jeder Gast bekommt jetzt ein Puzzle Teil von uns. Da hinten steht ein Tisch mit Stiften und Farbe. In der nächsten Stunde sollte jeder etwas auf das Puzzle malen, ganz egal was. Etwas was euch an das Brautpaar erinnert, eure ersten Begegnungen, oder einfach etwas, was ihr wollt. Das Brautpaar kann das Puzzle dann später zusammenbauen."
Ich finde diese Idee echt schön. Ich habe das schön öfter als Hochzeitsidee mitbekommen, aber bisher auf keiner Hochzeit selber erlebt.
Mein Dad kündigt ebenfalls noch weitere Spiele an, die in den nächsten Stunden stattfinden werden, bevor der erste Tanz stattfindet, und macht die Gäste auf das Photo Booth aufmerksam, welches in der anderen Ecke vom Garten nur darauf wartet, benutzt zu werden. Dann ertönt Musik und eine Fotoserie startet. Während manche Gäste sich schon auf den Weg zu dem Tisch mit den Farben machen, bleibe ich noch sitzen und schaue mir die Fotos an. Es sind viele Fotos von früher, Alex und Daria als sie noch klein waren, im Teenageralter, Familienfotos, Fotos mit Freunden. Ihr erster gemeinsamer Urlaub, der Antrag. Sogar ich bin auf manchen Fotos zu sehen, und ich muss lächeln. Es sind nicht nur schöne Fotos, sondern auch lustige, oder sogar ein bisschen peinliche Fotos dabei, die mich des Öfteren zum Lachen bringen.
Als ich nach einer halben Ewigkeit meinen Blick von dem Bildschirm abwende, sehe ich, dass Samu neben mir sitzt und ebenfalls gebannt auf die Bilder starrt. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er sich neben mich gesetzt hat.
"Cool, mh?", fragt er stolz, ohne seinen Blick abwenden und ich nicke nur. Es sind auch einige Fotos dabei, auf denen Samu und ich mit Alex und Osmo zu sehen sind, und ich grinse. Das waren noch Zeiten.
"Hast du das gemacht?", frage ich schließlich und sehe ihm mutig in die Augen. So blau.
"Klar", nickt er und mustert mich schmunzelnd. "Also, was willst du zuerst machen?"
Ich schaue ihn verwirrt an, woraufhin er nur lacht und sich kurz umschaut.
"Puzzle malen oder Photo Booth?"
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Afterglow [18+]
FanfictionAurora kommt nach vielen Jahren endlich zurück nach Helsinki. Konfrontiert von alten Beziehungen, merkt sie schnell, dass es nicht so leicht ist, die alte Liebe hinter sich zu lassen.