Das Haus meiner Eltern hat sich nicht verändert. Es ist ein wunderschönes großes Holzhaus am Ende der Straße, aus gelbangestrichenem Holz und mit einem riesigen Balkon, Vorgarten und Hintergarten. Ich kann schon von weitem Dad's Freundin Mari auf der Veranda stehen sehen wie sie uns aufgeregt zuwinkt. Sie ist ungefähr in Dad's Alter, trägt die Haare jetzt braun und ist einfach nur hübsch. Ich denke wer in diesem Alter noch so schön aussieht, hat in seinem Leben alles richtig gemacht. Oder einfach nur Glück.
Die Worte meines Dads, der weiter auf mich einredet, kriege ich gar nicht mehr richtig mit. Zu viele Eindrücke prasseln auf mich ein. Das alles hier wiederzusehen, macht mich in diesem Moment irgendwie glücklich und ich kann es gar nicht abwarten, mit allen mal wieder ordentlich zu sprechen und sich auszutauschen, aber Dad's Anspielung auf Samu hat mich gerade ziemlich durcheinandergebracht. Wir waren ganze fünf Jahre ein Paar und haben eine ganz schön lange Story hinter uns. Auch wenn wir uns im Guten getrennt haben, ist der Blondschopf plötzlich so präsent in meinem Kopf wie lang nicht mehr, und das nicht gerade im positiven Sinne. Eher in einem nervösen, aufgeregten Sinne, denn da mein Bruder sehr gut mit ihm befreundet ist, werde ich ihn definitiv wiedersehen, und das wahrscheinlich sogar schneller als ich gucken kann. Diese Sorgen hatte ich bisher nicht. Klar, als ich zusagte, zur Hochzeit zu kommen, war mir schon klar, dass wir früher oder später aufeinandertreffen würden. Aber da war dieser Aufenthalt hier noch eine ganze Weile hin und seit ich heute mit dem Flieger gelandet bin, habe ich komischerweise kein einziges Mal mehr daran gedacht. Umso mehr wirft es mich plötzlich aus der Bahn, seinen Namen wieder zu hören, was eigentlich nicht sein sollte, aber naja. Dagegen kann ich mich ja kaum wehren.
Als mein Dad das Auto in der Auffahrt parkt, tritt eine junge Frau neben Mari auf die Veranda und lächelt uns freundlich zu. Das ist wahrscheinlich Daria, die Verlobte von meinem Bruder. Ich erkenne sie von den Bildern, und auch sonst wüsste ich nicht, wer sonst noch in dem Haus sein würde. Okay, ich weiß, dass die Vorbereitungen schon laufen und es viele Helfer gibt, da die Hochzeit in unserem Garten stattfinden wird. Mein Bruder und Daria wohnen für diesen Zeitraum ebenfalls wieder im Haus, es ist auch wirklich groß genug für alle. Es könnte also theoretisch auch jemand anders sein.
Sie sieht wirklich toll aus, langes, blondes Haar, strahlend blaue Augen und ihr Kleidungsstil ist auch irgendwie interessant. Während ich mich am liebsten in zu großen Hoodies und Jeans verstecke, scheint sie kein Problem damit zu haben, ein bisschen Haut zu zeigen, was ich eigentlich total cool finde. Ich wünschte ich wäre so, doch sobald ich ein Kleid oder ähnliches anziehe fühle ich mich nackt und möchte mich am liebsten unter einem Cardigan verstecken. Ja, auch bei vierzig Grad Außentemperatur.
"Mach dir keine Sorgen", sagt mein Dad noch, bevor er aussteigt und sich hinten am Kofferraum zu schaffen macht. Ich weiß nicht mal worum ich mir keine Sorgen machen soll, weil ich ja gerade leider mit meinen Gedanken woanders war, aber ich denke mal es geht immer noch um Samu.
Langsam steige ich aus und schon schließen sich Maris Arme um mich und ziehen mich in eine Umarmung die ich nur zu gern erwidere. Es fühlt sich toll an, sie wiederzusehen.
"Dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen", lächelt sie und schaut mich glücklich an, was ich mit einem Lächeln erwidere. Sie strahlt richtig und sieht generell sehr glücklich aus.
Als wir damals hierhergezogen sind, war erstmal alles toll, aber irgendwann haben meine Eltern sich immer mehr gestritten, wegen der kleinsten Dinge, und haben sich einfach auseinandergelebt, wie das nun mal oft so ist. Mein Dad hat Mari relativ kurz nach der Scheidung kennengelernt, und seitdem war er wirklich, wirklich glücklich. Meine Mum war eine zeitlang alleine, hat dann aber irgendwo Brian, einen amerikanischen Auswanderer, aufgegabelt und scheint seitdem auch glücklich zu sein. Das war aber leider auch der Zeitpunkt, an dem sich unsere Beziehung zueinander deutlich verschlechtert hat, denn ich konnte Brian von Anfang an nicht leiden, wollte meiner Mutter aber auch nicht im Weg stehen, da sie, wie schon gesagt, glücklich schien und ich wollte auf keinen Fall die Person sein, die ihr das versaut. Die beiden habe ich aber auch ewig nicht mehr gesehen, weswegen ich auch nicht weiß, ob sie überhaupt noch zusammen sind. Sie ruft mich manchmal an, aber das war es auch. Sie fand meine Entscheidung damals zurück nach Oslo zu gehen die ganze Zeit doof und machte daher auch keine Anstalten, mich mal besuchen zu kommen. Vorher waren Mum und ich ein echt gutes Team, obwohl ich schon immer ein Vaterkind gewesen bin, doch ich konnte trotzdem immer über alles mit ihr reden. Manchmal ist es traurig, wie sich die Dinge ändern.
"Hab dich vermisst", kratze ich mein bestes Finnisch zusammen und Mari schaut erstaunt. "Du kannst es noch!"
"Naja, nicht wirklich, aber ein paar Sachen verlernt man ja nicht", lache ich und wende mich dann zu der blonden Frau um, die kaum älter als ich ist und mich freundlich angrinst.
"Hey, ich bin Daria", sagt sie, mustert mich kurz und zieht mich dann gleich in eine Umarmung.
"Aurora. Freut mich sehr", erwidere ich und lächele ehrlich. Sie scheint direkt sympathisch zu sein. Okay, ich habe mich schon oft genug getäuscht, was Menschen angeht, denn man kann nie wissen, wie eine Person ist, aber ich habe ein gutes Gefühl bei ihr.
"So, jetzt haben wir aber genug gekuschelt", unterbricht mein Dad die Runde leicht schmunzelnd und rollt meinen Koffer Richtung Eingangstür. Ich löse mich grinsend von den beiden und folge meinem Dad nach Innen.
Im Haus sieht ebenfalls noch alles aus wie immer. Es ist rustikal eingerichtet, eine Idee die noch von meiner Mutter stammt und die mein Dad offenbar nicht ändern möchte, was verständlich ist, denn es ist wirklich sehr gemütlich. Kein Wunder, dass mein Bruder und Daria ihre Hochzeit hier feiern wollen. Das wird bestimmt ein toller Tag.
Der Flur ist mit weißem Holz an den Wänden ausgekleidet und einem dunklen Holzboden, der im ganzen Haus verlegt ist. An der Wand direkt gegenüber von der Haustür steht eine riesige, blaue Couch, auf der Alex und ich früher immer mitten in der Nacht saßen und uns über Gott und die Welt unterhalten haben, einfach weil sie so unglaublich bequem ist. An den Wänden sind alle möglichen Familienfotos, von Mum und Dad, Alex und mir, unser Hund Charlie der leider letztes Jahr verstorben ist, ein riesengroßes Foto von Dad und Mari was ich mal gemacht habe, kurz nachdem sie zusammengekommen sind. Sogar mein Abschlussfoto hängt hier. Mein Dad hat früher immer gesagt, dass Fotos Denkmäler der Vergangenheit sind und es ihm daher wichtig ist, schöne Momente festzuhalten. Wie recht er hat.
Ich werfe einen Blick nach rechts ins Esszimmer, wo schon die Wände schön dekoriert worden sind. Plötzlich durchströmt mich ein Gefühl von Wärme, und die Gefühle von vorhin sind wie weggeblasen. Es ist so richtig wie zuhause, und ich werde mal wieder in alte Zeiten versetzt, aber auf eine gute Art. Alte Zeiten, in denen die ganze Familie hier zu Mittag aß, in denen Dad das erste Mal Mari mitbrachte, Stunden vor dem Fernseher am Sonntagabend bei irgendeinem schlechten Actionfilm, im Wohnzimmer welches rechts neben Küche und Esszimmer liegt. Es ist ein wirklich riesengroßes Wohnzimmer, und auf dem Sofa haben locker zehn Personen Platz.
"Alles in Ordnung?", fragt mein Dad mich, der schon mit meinem Koffer auf der Treppe nach oben steht, während ich noch in der Gegend rumstarre.
"Klar", lächele ich und gehe ihm hinterher. Im oberen Geschoss sind die Schlafzimmer von meinem Bruder und mir, welche natürlich mittlerweile beide mehr oder weniger als Gästezimmer dienen, mein Dad und Mari haben ihr Schlafzimmer im Keller, direkt neben der Sauna, die natürlich ganz typisch finnisch auch vorhanden ist.
In meinem alten Zimmer angekommen schaue ich mich erstmal um. Von meinem Fenster aus kann man in den Garten sehen, und dahinter in den Wald, wo auch ein kleiner Fluss entlangläuft. Mein Dad hat hier nicht viel geändert, sogar meine alten Bilder hängen noch an der Wand über meinem Bett. Dieses hat er mit meiner Lieblingsbettwäsche bezogen, was mich ein bisschen zum Lachen bringt. Sie ist braun weiß gestreift mit kleinen Eichhörnchen drauf, und ich habe sie schon seit ich klein bin. Keine Ahnung warum sie so besonders für mich ist, aber ich mochte sie einfach immer gern.
"So, hier sind deine Sachen", sagt mein Dad und stellt den Koffer neben mein Bett. "Du kannst dich erstmal ein bisschen ausruhen. Wir bauen jetzt noch ein bisschen im Garten auf und Mari macht später Essen. Du kannst ihr ja dann helfen, wenn du magst. Sie freut sich bestimmt, mal wieder ein bisschen mit dir zu quatschen."
"Das mache ich gerne", lächele ich und umarme ihn. "Danke Dad, dass ich hier sein darf."
"Du bist hier immer willkommen", lächelt er und verlässt den Raum und ich lasse mich auf mein Bett fallen.
Auf einmal frage ich mich, warum ich nie eher hierhergekommen bin. Immerhin scheinen sich alle hier zu freuen, dass ich da bin, und auch ich freue mich sie wiederzusehen. Es ist also nichts verkehrt daran, nicht viel scheint sich verändert zu haben. Doch vermutlich ist auch tief im Inneren nicht meine Familie der Grund für meine Abstinenz, sondern Samu. Ich bin nicht besonders scharf darauf ihn wiederzusehen. Okay, ich würde mich schon freuen aber naja. Es ist einfach nicht so einfach, damit konfrontiert zu werden.
Das mit uns fing an, als Osmo, ein sehr guter Freund von mir und Alex, uns seinen Freunden vorgestellt hat, kurz nachdem wir hierhergezogen sind. Dabei waren eben auch Samu und Riku, seine Bandkollegen. Und auch wenn mir Samu erst irgendwie wie ein Kind vorkam, weil er und Riku immer nur scheiße gemacht haben, hat er mich irgendwann mit seinem Charme und vor allem seinem Lächeln in seinen Bann gezogen. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat, aber es ist einfach passiert. Überflüssig zu sagen, dass ich eh eine Schwäche für Männer mit Gitarre habe.
Tja, was soll ich sagen. Wir waren eine lange Zeit glücklich. Immerhin waren wir etwa fünf Jahre zusammen. Ich habe geglaubt, dass er mein Seelenverwandter ist, und nichts uns trennen kann. Das hat sich jedoch anders herausgestellt. Ich glaube zwar immer noch irgendwo, dass er mein Seelenverwandter ist, doch wir waren nicht unzertrennlich. Die Musik, also sein Job, hat uns auseinandergebracht. Als er das erste Mal bei The Voice of Germany mitgemacht hat, ging der Hype um ihn und seine Band auf einmal an die Decke. Und da waren sie plötzlich, die Nächte im Tourbus, Interviews am Morgen und Konzerte am Abend. Und versteht mich nicht falsch, ich habe es ihm gegönnt, wirklich. Aber es hat uns auf eine harte Probe gestellt. Im Endeffekt hätten wir es wahrscheinlich hingekriegt, doch es gab noch etwas. Die Schlagzeilen in den Nachrichten. Paparazzi lauerten überall, machten Fotos von uns, schrieben irgendeinen Mist über mich und es wurde einfach irgendwann zu viel. Samu wollte mich davor beschützen und für mich war es auch echt nicht einfach. So haben wir uns also schließlich, wie gesagt im Guten, getrennt und ich bin zurück nach Oslo gegangen. Das ist nur die Kurzfassung, in Wahrheit war es noch viel schlimmer.
Als ich meine Sachen alle in meinen Schrank geräumt habe und mich generell ein bisschen eingerichtet habe, beschließe ich eine Dusche zu nehmen und danach runter zu gehen, um Mari mit dem Essen zu helfen. Nach dem langen Tag tut es gut, dass Wasser auf meine Haut prasseln zu fühlen, und ich fühle mich fast wie ein neuer Mensch. Ich weiß echt nicht, warum es immer so anstrengend ist zu reisen, ich meine im Grunde sitzt man doch nur die ganze Zeit rum und der Flug von Oslo nach Helsinki ist auch nicht gerade lang. Trotzdem bin ich total kaputt.
Seufzend nehme ich ein Handtuch vom Haken und wickele es um mich, bevor ich einen Blick aus dem Fenster in den Garten werfe und fast einen Herzanfall kriege.
Das darf doch echt nicht wahr sein.
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Afterglow [18+]
FanfictionAurora kommt nach vielen Jahren endlich zurück nach Helsinki. Konfrontiert von alten Beziehungen, merkt sie schnell, dass es nicht so leicht ist, die alte Liebe hinter sich zu lassen.