12. Gedankenkarussell

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Es hatte bis in die frühen Morgenstunden gedauert, bis Theresa ihren unruhigen Geist einigermaßen hatte beruhigen können und sie dann doch die Müdigkeit übermannt hatte. Doch lange hielt der erholsame Schlaf nicht an. Bereits kurz nach Sonnenaufgang saß sie wieder kerzengerade in ihrem Bett, und konnte vor lauter Herzklopfen nicht einmal mehr liegend den letzten Abend und vor allem den Abschluss dessen resümieren. War das wirklich passiert?! War das kein allzu lebhafter Alkoholtraum gewesen? War sie tatsächlich mit Paul nach Hause gefahren? Und hatte dieser sie zuerst mit einem scheuen, braven und anschließend mit einem leidenschaftlichen Zungenkuss in die Nacht verabschiedet? Ja, verdammt, ja! Das hatte er! Egal wie oft Theresa die Situation noch in ihren Gedanken durchspielte, sie kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis und konnte sich jedes Mal mit der gleichen Intensität an das Gefühl erinnern, dass sie bei diesem Kuss gespürt hatte. Es jagte ihr immer wieder einen Schauer über den Rücken. Fast fühlte sie sich, als wäre sie das erste Mal überhaupt geküsst worden. So musste sich wohl Dornröschen im Märchen gefühlt haben, als der Prinz kam und sie wach küsste. Die Erzieherin musste unweigerlich lachen. Ja, ein wenig war sie tatsächlich das Dornröschen im hundertjährigen Schlaf, und dann kam da so ein flapsiger, frecher kleiner Gitarrist der mal eben erfolgreichsten Rockband Deutschlands daher und küsste sie wach. Ja, sie fühlte sich wach! Und lebendig! Es war schon Monate her, dass sie sich so beschwingt, glücklich und vor allem vollkommen gefühlt hatte. Wie warm seine Lippen gewesen waren, wie rau seine Hände, wie zärtlich sein Griff, wie liebevoll sein Lächeln!

Es hatte sowieso keinen Zweck, noch weiter liegen zu bleiben. Das hatte sie jetzt schon fast zwei Stunden lang probiert. Ihre Gedanken würden sowieso nur um Paul kreisen. Sie genoss es mit allen Poren ihres Körpers. Dieses flattrige, pulstreibende, nervöse frisch-Verliebt-Gefühl. War sie tatsächlich verliebt? Hm... darüber wollte Theresa lieber gar nicht nachdenken. Nur weil sie sich geküsst hatten...? Doch sie wollte sich nicht schon nach ein paar Stunden diesen wundervollen Moment zerstören lassen. Sie zwang sich, nicht wieder alles totzugrübeln und beschloss in Ermangelung eines besseren Planes für den Tag, einfach mal ganz entspannt in diesen zu starten. Den Kaffee brachte sie gerade noch herunter, doch beim Müsli musste sie nach nur wenigen Löffeln kapitulieren und kippte nach einer halben Stunde die aufgeweichten Haferflocken in den Restmüll. Zwecklos. An Essen war nicht zu denken. Lieber duschen. Ja, duschen war eine gute Idee! Ihre Haare rochen noch verräterisch nach Chlor und fühlten sich ganz strohig an. Doch auch eine halbe Stunde später war der Tag noch nicht wirklich fortgeschritten und Theresa stellte missmutig fest, dass es sogar noch vor zehn Uhr morgens war. Was sollte sie denn mit diesem Tag anfangen...? Sollte sie...? Oh, verflucht... Ihre anfängliche, träumerische gute Laune am Morgen verfinsterte sich mit einem Mal zu einer großen, schwarzen Gewitterwolke. Schon wieder hatte sie es nicht geschafft, mit Paul die Handynummern zu tauschen. Sollte es das denn jetzt echt schon gewesen sein?! Klar, sie hätte jetzt Richard anrufen oder ihm zumindest schreiben können und mal nach der Nummer fragen. Doch dann hätte sie prompt einige Gegenfragen bekommen. Ach, Pauls Nummer? Wozu brauchst du sie denn? Möchtet du ihn anrufen? Möchtest du ihn etwa wiedersehen? Ist etwa schon was passiert? Was für eine unangenehme Vorstellung. Nein, das konnte sie nach dem gestrigen Abend nicht bringen. Nicht, nachdem sie Richards Getränke hinuntergestürzt, in seinem Pool gelegen und den Bikini seiner Tochter getragen hatte. Da kam sie sich richtig schäbig vor. Aber welche andere Alternative gab es? Sie kannte weder Pauls Adresse, noch seine Telefonnummer. Wenn sie Richard nicht zu Rate ziehen wollte, dann müsste ja sie jetzt warten und hoffen, dass sich Paul irgendwann bei ihr meldete?! Eine noch schlimmere Vorstellung. Ja, Theresa war klar, dass selbst wenn sie irgendwelche Kontaktdaten von ihm hätte, sie sich nicht jetzt sofort bei ihm melden würde. Das wäre wirklich total albern. Aber wenn sie doch wenigstens seine Telefonnummer hätte und WÜSSTE, dass sie sich jederzeit bei ihm melden KÖNNTE, wenn sie denn WOLLE. Aber so war sie nun vollkommen machtlos und der Reaktion ihres Gegenüber ausgeliefert, auch wenn diese vielleicht ins Nichtstun führen könne. Theresa erschauderte. Nein, das konnte und durfte einfach nicht sein. Warum sollte er sie denn küssen, wenn er sich dann nie wieder bei ihr rühren würde? War für ihn das Thema gegessen? Genau wie für Richard? War das gestern alles nur eine abschließende Aktion für beide gewesen? Maxime hatte endlich Ponyreiten dürfen, und alle waren zufrieden? Musste sie tatsächlich wieder zurückkehren in ihren Alltag, ganz ohne den Kontakt zu dem lässig-coolen Richard und seiner süßen, aufgeweckten kleinen Tochter und dem witzig-schlagfertigen Paul? Musste sie wieder ihre Tage ohne diese drei Menschen verbringen, die ihr so gut getan hatten die letzten Wochen?

Tochter der Leere - Rammstein FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt