14. 7952

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Die Erzieherin hätte sich Grün und Blau ärgern können: Ausgerechnet ab nächster Woche, wo Paul für zwei verdammt lange Wochen nach Südamerika verschwinden würde, hatte ihr Arbeitgeber Betriebsurlaub und schloss die Kita für drei Wochen. Was für ein beschissenes Timing! Jetzt war sie nicht nur zwei Wochen alleine, sondern auch noch zwei Wochen ohne jegliche Ablenkungen! Aber was brachte schon Schimpfen und Fluchen, ihre Kitaleitung konnte sich ja auch nicht danach richten, wann die Madame nach so langer Zeit endlich wieder jemanden kennen lernen würde. Doch so ganz resignieren wollte Theresa nun doch nicht. Diese wenigen Tage, die sie eventuell noch mit Paul verbringen konnte, durften definitiv nicht von Arbeit gestört werden! Ganz unschuldig wandte sie sich deshalb gleich Montag in der Früh mit überschminkten Augenringen an ihre Chefin und fühlte nach: „Sag mal Eva..." „Was gibt's?" „Würdest du ab Mittwoch eigentlich auch ohne mich auskommen?" „Warum?", fragte diese schon unheilvoll. „Nun ja, das ist ein bisschen kompliziert." Die Kitaleitung zog die Brauen hoch. „Kompliziert ist immer super. Hat's mit nem Kerl zu tun oder kommt der Hufschmied wieder ausgerechnet Donnerstag Vormittag?" Anscheinend war Eva schon so einige Geschichten gewöhnt, die mit dringenden Pferde-Terminen zu tun hatten. „Tatsächlich mit nem Kerl..." „Was?!" Evas Gesichtsausdruck wandelte sich binnen einer Sekunde von skeptisch-ablehnend zu neugierig-freudig. „Ernsthaft?! Ich dachte, ich mach nur Spaß, ich hätte nie daran gedacht, dass du wieder... Na egal. Erzähl!!" „Naja, er wollte mich unbedingt diese Woche nochmal sehen, weil er am Wochenende keine Zeit mehr hat und dann für zwei Wochen nicht mehr im Land ist." „Nein, tatsächlich?! Ist der beruflich so ein Globetrotter?" „Könnte man so sagen..." Theresa grinste etwas hilflos. „Was macht er denn?" „Er ist Musiker." „Und da reist der bis nach Südamerika?! Was hast du dir denn da für eine Berühmtheit an Land gezogen?!"

Tja, das war es dann erst mal mit dem Papierkram, den die beiden eigentlich heute Früh zusammen erledigen wollten. Unter begeistertem Quietschen, anerkennenden Ausrufen wie „Gibt's doch gar nicht!" oder „Brat mir doch einer n Storch!" musste Theresa nun die ganze Story von der Hochzeit an bis heute erzählen. So gesehen schon verdammt viel, was da so alles passiert war. „Und da erzählst du mir einfach nix?! Dafür sollte ich Dir eigentlich dein Gehalt einkürzen! Da schläft dein Privatleben zwei Jahre lang einen Dornröschenschlaf, erwacht innerhalb von nicht mal sechs Wochen und ich erfahre erst jetzt davon!", spielte Eva die Entrüstete. Theresa musste grinsen. Genauso hatte sie sich auch schon betitelt. Einfach, weil es wahr war. Und tja, Theresa wusste auch nicht so Recht, warum sie so lange vor ihren Freundinnen, zu denen sie Eva auch definitiv dazu zählte, mit der ganzen Geschichte hinterm Berg gehalten hatte. Wahrscheinlich, weil sie selbst so lange nicht daran geglaubt hatte, dass es erzählenswert wäre. Okay, diese Story ließ Eva auch tatsächlich gelten. Jetzt, wo sie wusste, um was es ging, war sie natürlich auch viel wohlwollender gegenüber Theresas unkonventionellem Urlaubsantrag eingestellt. „Gut, ich kann zwar eigentlich keine Erzieherinnen aus den Gruppen mehr entbehren, aber dann springe ich Gottes Namen selbst für dich ein und mach von mir aus Donnerstag und Freitag Gruppendienst. Dann muss halt die zwei Tage jetzt die Büroarbeit liegen bleiben und ich hol sie nach, wenn wir eh unsere Schließtage haben. Und du hilfst mir dabei! Dann sollten wir den Mist auch an einem Tag schaffen und haben dann nach Montag auch unsere Ruhe. Okay? Und wehe, du hast dann am Wochenende nix ordentliches zu erzählen! Dann zieh ich dir die Tage wirklich als unbezahlten Urlaub ab!" „Versprochen!", grinste Theresa und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Manchmal vergaß sie tatsächlich, was sie für tolle Menschen in ihrem Umfeld hatte. Daran sollte sie sich öfter mal erinnern, anstatt immer nur in ihrem Schneckenhaus zu sitzen.

Glücklich darüber, das Ganze so toll eingefädelt zu haben, rief sie am Abend mit klopfendem Herzen das erste Mal überhaupt bei Paul an und war vollkommen von den Socken, als sich eine vertraute Stimme mit der Ansage „Städtische Pferdewaschanlage Wiesbaden, Hochholzer, guten Tag?" meldete. „Äääh... Hier immer noch die olle Kindergartentante, die Sie abschleppen wollten, da lieg ich doch noch richtig, oder?" „Sehr gut!", meldete sich nun wieder „Paul" zurück, „so vollkommen gegen die Wand läufst du ja gar nicht mehr, wenn man dich veräppeln will." „Haha.", gab Theresa schnippisch zurück. „Und, gibt's gute Neuigkeiten?" „Ja, sogar ganz tolle. Ich hab für Donnerstag und Freitag frei bekommen und stünde somit ab Mittwochabend zu deiner Verfügung." „Hey, das klingt ja wirklich super! Trifft sich sogar ganz gut, am Mittwoch ist bei mir in der Nähe ein Craftbeerfestival wo auch bisschen Livemusik gespielt wird. Bisschen Reggae, Blues und noch n paar andere Gruppen, die ich gut kenne. Sagt dir sowas zu?" Scheißegal Paul, Hauptsache wir sehen uns! „Gerne, das hört sich gut an." „Wollen wir uns da direkt treffen? Ich schau nochmal genau nach, in welchen Straßen die das genau machen und dann melde ich mich nochmal bei Dir." „Super." „Dann bis übermorgen, meine Hübsche."

So einfach war das. Schon wieder. Theresa konnte ihr Glück selbst kaum fassen. Es sollte also wieder gerade mal zwei Tage dauern, bis sie das wandelnde Gute-Laune-Paket wieder traf. Ihre Welt drehte sich zur Zeit wirklich in absoluter Lichtgeschwindigkeit. Dienstagabend hatte sie dann also auch noch die genaue Adresse bekommen und mit Freuden den Wetterbericht gecheckt, der für den Rest der Woche noch sommerliche 28 Grad ankündigte. Nachdem sich die Erzieherin also Mittwochnachmittag in einer Beauty-Wellness-Enthaarungs-und-Aufhübschen-Dusche auf Vordermann gebracht hatte, schlüpfte sie wieder in das blumige Rockabilly-Kleid von der Schneider-Hochzeit, in der Hoffnung, Paul möge den Wink bemerken. Noch eine Blume ins Haar und Federn an die Ohrringe gehängt, fertig war sie für einen Alternative-Craftbeer-Abend. Und tatsächlich, ihr neuester Lieblingsgitarrist – selbst lässig in kurzen Hosen und einem verdammt gutaussehenden Hemd, bei welchem er die obersten zwei Knöpfe offen gelassen hatte – empfing sie mit einem stürmischen Kuss und stellte sofort fest „Hochzeit reloaded, oder was?" „Okay, ich hätte gewettet, dass du wenigstens eine Minute brauchst, um es zu merken.", strahlte ihm die Rothaarige entgegen und erwiderte seinen Kuss in der gleichen Intensität. „Doch nicht mit mir.", meinte Paul verschmitzt. „Wollen wir erstmal ein bisschen bummeln und was trinken?" „Sehr gerne." Gesagt, getan. Theresa hakte sich bei ihrer Begleitung unter. Die erste Stunde ihrer Verabredung brachten sie erstmal damit zu, sich durch ungefähr zwanzig Biersorten zu probieren, bis jeder seinen Liebling gefunden hatte und sie gleich mal einen Mini-Sixpack davon erstanden und sich in der Nähe eines chilligen Reggae-Sängers, der mit seiner Gitarre das Publikum bestens unterhielt, auf ein paar ausgelegten Decken niederließen.

Die Sonne schien wohlwollend, aber nicht zu knallig auf die Berliner herunter, die Musik füllte die Luft mit Urlaubsatmosphäre und dank Sonnenbrille schien niemand Paul zu erkennen, sodass heute ausnahmsweise kein Fan vorbei kam, um ein Autogramm abzustauben. Theresa war mit ihrer Schulter an die von Paul gelehnt und genoss das kühle Bier, das ihre Kehle benetzte. Verdammt, konnte das Leben schön sein! „Weißt du, was ich mich schon seit Sonntag frage?" „Hau raus." „Was hat Richard eigentlich gesagt, als du ihn nach meiner Handynummer gefragt hast?" Sorry Paul. Diese Frage hatte Theresa wirklich schon seit dem Moment unter den Nägeln gebrannt, seit er sich das erste Mal bei ihr gemeldet hatte. „Gar nichts." „Wie – gar nichts?" Ein bisschen enttäuscht war die Rothaarige jetzt schon. „Ich hab ihn nicht gefragt." „Aber... jemand anders außer Richard hatte meine Handynummer doch gar nicht. Höchstens Ulrike. Du MUSST sie von ihm haben." „Korrekt, meine Süße. Aber ich hab ihn trotzdem nicht gefragt." „Okay Paul, dann beantworte mir EINE Frage." „Alles, was du willst." „Wie bist du in Richards Handy reingekommen?!" „Ist das dein Ernst?!" Paul verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte leicht gekränkt. „So wenig traust du mir zu?" „Ey, ich kenne dich noch nicht so lange. Das muss als Entschuldigung zählen. Dann erleuchte mich doch." Der Gitarrist grinste zufrieden und lockerte seine Haltung wieder. „Ganz einfach. 7952." „7952?", wiederholte Theresa ratlos. „Ganz genau." „Das ist jetzt...was?" „Na, der Zugangscode zu seinem Handy. Seinen Fingerabdruck konnte ich leider noch nicht fälschen. So gut bin selbst ich nicht." Der Witz verfehlte seine Wirkung nicht. Die Rothaarige musste kichern. „Und warum ist das jetzt für dich so selbstverständlich?" „Du bist doch auch noch diese Generation. Du erinnerst dich doch noch bestimmt an die Buchstaben, die pro Ziffer vergeben wurden, um SMSen zu tippen?" „Ja klar." „Das war sein Code. Beziehungsweise die Buchstaben. R Z K B. 7952. Klar ham wir mittlerweile alle diese dämlichem Smartphones, mich eingeschlossen, aber Richard ist faul. Der hat einfach nie seinen Code geändert. Seit 10 Jahre nicht...Tja, und wenn dann ein interessierter Kollege vorbeischaut...", da setzte Paul wieder sein schelmisches Grinsen auf. „Du spionierst ihm doch wohl hoffentlich nicht hinterher, oder?", prustete Theresa los. „Neiiiin. Natürlich nicht." Der Gitarrist lachte leise. „Nur manchmal. Da ärgere ich ihn ein bisschen. So wie jetzt. Aber ich würde niemals seine Nachrichten lesen oder irgendwas in seinem Namen abschicken. Das geht mich dann doch nichts an. So geradlinig bin ich. Das würde ich ja auch nicht wollen, dass das jemand bei mir macht..." Ausnahmsweise wurde er nun ernst. „Okay... Aber jetzt verrate mir noch, wofür R Z K B steht?!" „Mein lieber Scholli, und sowas nennt sich Fan?!" Paul gab sich entrüstet. „Ihr solltet doch sowas wissen!" Theresa musste wieder lachen. Er brachte sie IMMER zum lachen. „Ach, jetzt zähle ich wieder zu den Fans?" „Wenn's mir passt, ja." Doch die Erzieherin sah wieder den Schalk in seinen Augen. „Dass ich sowas mal erklären muss.", er schüttelte theatralisch den Kopf. „Na, Richard Zven Kruspe-Bernstein." „Kruspe-Bernstein? Okay, Fan hin oder her, aber so heißt er doch gar nicht mehr." „Völlig richtig. Aber ich sag ja, er hat seinen Code das letzte Mal vor zehn Jahren geändert, und da hieß er noch so. Außerdem gibt's keinen 3-stelligen Handycode, und nur unser Richard ist so selbstverliebt, dass er seinen eigenen Namen als Sperrcode benutzt." „Ziemlich harte Worte." „Wir lieben ihn." „Dann ist ja gut." „Und ich kenne ihn jetzt bald 25 Jahre. Sowas ist gefährlich." „Ich werde mich bis in das Jahr 2040 in Acht nehmen und mein Handy im Auge behalten." „Gut so.", Paul zwinkerte ihr zu. Es gefiel ihm, wie Theresa immer selbstsicherer wurde und ihm die Bälle wie im Tischtennis sofort zurückspielte. Zumindest heute Abend zeigte sie ihm eine andere Theresa als die, die er vor ein paar Wochen auf Schneiders Hochzeit kennen gelernt hatte, die noch rot wurde, wenn man ihr ein Kompliment machte.

Da am nächsten Tag ja ein Urlaubstag winkte, hatte Theresa überhaupt kein Problem damit, dass sie schon wieder bis in die Puppen quatschten. Auch, wenn dies eigentlich gegen Pauls eigentliche Abneigungen ging, über die Band zu sprechen, wollte ihm die Erzieherin doch ein paar Details zu seiner anstehenden Südamerika-Reise entlocken. Sie selbst hatte es entfernungstechnisch gerade mal bis nach Sardinien oder Malta geschafft, deswegen war sie schon etwas an Reisedetails interessiert, auch weil Paul erwähnt hatte, dass dies nicht ihre erste Tour durch Argentinien und Brasilien sein würde. Zu gerne wäre Theresa selbst einmal in eines dieser Länder gereist, doch bis dato hatte ihr entweder das Geld oder der passende Reisepartner gefehlt. „Hättest du was dagegen, wenn wir dieses Gespräch an einem ruhigeren Ort weiterführen? Ich weiß, ich bin wahrscheinlich schon paranoid, aber wenn ich hier jetzt so freizügig über unsere Tour quatsche, hab ich schon wieder Schiss, dass jemand zuhört, der das nicht soll." „Öh, klar. Kein Problem." Theresa drückte die eben fertig gerauchte Zigarette auf einem Kopfsteinpflaster aus und erhob sich langsam. „Die nächste könnten wir ja auf meinem Balkon rauchen. Ich wohn ja wie gesagt nicht weit weg. Was sagst du?" „Machen wir. Aber nur, wenn wir von da drüber noch so ein Oliventeil mitnehmen. Das war echt lecker und so ein bisschen Hunger hätte ich schon noch." Also versorgten sich die beiden noch mit Tomaten- und Olivenbrötchen und steuerten, diesmal begleitet von mächtigem Herzklopfen von Theresas Seite aus, auf Pauls Wohnung zu. Da Paul sie ja wieder zu einem mehr oder weniger Date in der Öffentlichkeit eingeladen hatte, erweckte es ein wenig gemischte und vor allem fragende Gefühle in ihr, ihn heute noch in seinen eigenen vier Wänden erleben zu dürfen. So ganz entspannt war sie dann doch noch nicht, als dass jetzt nicht die Aufregung in ihr aufkeimte.

Der Gitarrist schien dies sofort zu bemerken und drückte ihre Hand jetzt etwas fester. „Keine Angst Prinzessin. Wird schon nichts passieren, hm?" Gleich, als sie die Wohnung betraten, deutete Paul auf verschiedene Türen und erklärte: „Küche – Bad – Wohnzimmer – Schlafzimmer – Kramzimmer – Weg zum Balkon. Falls du heute mal ganz dringend aufs Klo musst oder den Weg in die Küche zum Bierholen nicht findest." „Aaaaaalles klar.", meinte Theresa schmunzelnd. Anerkennend stellte sie fest, dass Paul zwar auch nur ein Zimmer mehr zu haben schien als sie, jedoch war die Wohnung ungefähr doppelt so groß. Die Küche war einfach riesig. Hier gab es nicht nur einen kleinen Küchentisch wie bei ihr, sondern einen richtig fetten Esstisch mit Sitzbank, an dem locker acht Leute Platz fanden. Eine richtig gemütliche Wohnküche. Auch das Wohnzimmer protzte mit Platz, wenn auch zu ihrer Freude nicht mit teuren Möbelstücken. Natürlich besaß Paul einen Flachbildfernseher und eine fette HiFi-Anlage, jedoch stand hier eine ganz normale, neutrale Wildleder-Couchgruppe herum, wie sie in jedem Haushalt des oberen Verdienstdurchschnittsbürgers zu finden sein könnte. Die vielen Braun- und Beigetöne fühlten sich sofort heimelig an. Auch der Balkon wirkte gepflegt und einladend. Obwohl natürlich ein obligatorischer Aschenbecher auf dem Tisch stand, sah es nicht so aus, als würde Paul nur zum Rauchen rausgehen. Er musste hier auch den ein oder anderen Abend verbringen, sonst würden hier nicht drei Pflanzen, davon zwei Palmen, ein Buch, eine Schachtel Zigaretten, Feuerzeug, eine Garnitur Sitzpolster und ein Paar so absolut nicht-rockstarmäßige Flipflops herumflackten. „Gemütlich!", meinte Theresa ehrlich. „Sicher? Ist das nicht die kleine Schwester von scheiße?" „Ne, das wäre nett gewesen." „Ah, alles klar. Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen. Ich hol mal was Flüssiges. Mach's dir schon mal bequem." Das ließ sich die Rothaarige nicht zweimal sagen. Gerade, als sie sich auf den breiten Sitzmöbeln in eine gute Position manövriert hatte, hörte sie von hinten ein lautes PLOPP und Pauls Stimme hinter sich. „Nimmst du mir die mal ab?" „AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!" Theresa sprang ruckartig wieder auf und drehte ihren gesamten Körper zu der vermeintlichen Gefahrenquelle hin. „Wie kannst du mich so erschrecken?!" Erst jetzt kapierte sie, dass das Küchenfenster tatsächlich direkt zum Balkon hin aufging und Paul sich nichts dabei gedacht hatte, als er die zwei geöffneten Bierflaschen durch das Fenster an Theresa weiter reichen wollte. „Sorry, ich dachte, du hättest das schon überrissen." „Ne, da haste mir wohl zu viel zugetraut." Der Rothaarigen ging mächtig die Pumpe. „Mach das nie wieder, sonst krieg ich nen Herzinfarkt." „Okay... ich nehm den langen Weg.", Paul verdrückte sich ein Lachen und kam mit den Bieren über die Küche und das Wohnzimmer wieder auf den Balkon.

Nachdem es sich beide bequem gemacht hatten und auf Teil zwei des Abends angestoßen hatten, war allerdings schnell vergessen, warum die beiden eigentlich den Standort gewechselt hatten. Südamerika war nun nicht mehr wichtig. Sobald Theresa hatte fallen lassen, dass so ein simples, kühles Pils dann doch immer noch um Längen besser schmeckte als das beste gebraute Craftbeer unten auf der Straße, traten sie eine Diskussion über das bayerische Reinheitsgebot, Bierpanscher in Amerika, Beck's Biermischgetränke und Alsterwasser los. Da Theresa ja nun die Abkürzung zum Balkon kannte, gingen sie und Paul jeweils abwechselnd im 45-Minuten-Takt in die Küche und reichten dem jeweils anderen neuen Nachschub nach draußen. Doch nach der dritten Runde machte die Kindergärtnerin allmählich schlapp. Sie hatten ja bereits auf dem Craftbeerfest drei Flaschen getrunken, und so eine Trinkfestigkeit konnte sie nun auch nicht aufweisen, erst recht nicht bei entsprechend hohen Temperaturen. „Paul, von mir aus schmeckt Beck's Green Lemon zum Kotzen, aber ich geb jetzt auf. Wenn ich noch ein Bier trinke, dann steig ich dir glatt durchs Fenster und penn in der Küche ein." „Eher nich zu empfehlen. Ich hab schon lange nicht mehr durchjewischt." „Gutes Argument. Aber ich glaub, ich brauch jetzt allmählich wirklich ein Bett." Theresa hatte es zwar mittlerweile lieben gelernt, auf Pauls Kommentare einzusteigen, doch mittlerweile zeigte die Uhr schon zwei Uhr nachts an und sie war einfach zu müde, um ihm die frechen Sprüche wieder zurück zu werfen. „Kein Problem.", meinte der Gitarrist verständnisvoll. „Soll ich Dir ein Taxi rufen? Oder möchtest du...?" Resa verstand sofort. „Wenn ich denn darf.", meinte sie nur und schnitt Paul somit das Ende seiner Frage ab. „Natürlich darfst du. Wieso wirst du denn jetzt rot?!", fragte Paul verunsichert und gleichzeitig etwas ungeduldig. „Naja... ich geb ja zu, ich bin nicht ganz unvorbereitet." „Wie darf ick det jetz verstehn?" „Ich hab... ach, schau's dir einfach selber an." Die Erzieherin wuchtete ihre Handtasche auf ihren Schoß, wühlte kurz darin und stellte schließlich einen mit Fischen bedruckten Plastikbecher auf den Tisch. Als Paul erkannte, um was es sich hierbei handelte, prustete er los vor Lachen. „Is det dein Survival-Pack, oder was?" „So ungefähr.", grinste die Rothaarige. Sie war froh, dass sie sich jetzt nicht peinlich erklären musste, sondern einfach frei heraus sprechen konnte. „Das hab ich früher immer so gemacht, wenn ich dachte, dass ich die Nacht vielleicht auswärts verbringe. Nimmt nicht viel Platz weg in der Tasche, aber ich hab immer alles dabei." „Du Schlitzohr." Paul schnappte sich den Zahnputzbecher, um ihn auf seinen Inhalt zu untersuchen. „Det is wirklich alles, was ihr Frauen so braucht? Ick bin ja fast positiv überrascht." Er zog eine Zahnbürste, eine Mini-Zahnpasta und einen schwarzen Slip, der sorgfältig zusammengerollt in den Becher gesteckt worden war, hervor. „Da kommt man sich ja direkt blöd vor als Mann, also n bisschen mehr brauch ick schon in der Früh. Was is mit Deo oder so?" „Oh Paul, du bist ja süß.", lachte Theresa. „Sowas haben Frauen doch sowieso immer in ihrer Handtasche. Genauso wie Bürste, Handcreme, Taschenspiegel oder so. Das kann man unterwegs IMMER mal brauchen. Aber Zahnbürste und Slip schleppe ich dann doch eher nicht täglich mit mir rum." „Nich? Schade." Er grinste, steckte die Utensilien wieder zurück in den Becher und schob ihn Theresa wieder entgegen. „Det heißt, du wolltest Dich hier sowieso heute Abend bei mir einquartieren?" „Um Gottes Willen! Das klingt jetzt so schlampig.", Theresa wehrte mit wedelnden Händen ab. „Ich wollte wie gesagt nur auf alles vorbereitet sein. Ich lerne ja dazu." „Hast dich schon wieder von mir ärgern lassen. Wir sind doch beide erwachsen." Mit einem süffisanten Grinsen zog er sie nun besitzergreifend zu sich heran und schlang seine Arme um ihre Taille. Daraufhin entwich der Rothaarigen ein überraschtes „Huch!" und sie stützte sich mit beiden Händen auf seiner Brust ab, um nicht von den Beinen gerissen zu werden.

Es dauerte keine halbe Sekunde, da hatte Paul wieder seine Lippen auf Theresas gelegt und sie in einen sehnsüchtigen Kuss verwickelt. In ihrem Kopf drehte sich nun wieder alles, und es lag definitiv nicht am Alkohol. Würde sie sich jemals daran gewöhnen können, wie jenseits aller Vorstellungskraft dieser Mann küssen konnte? Und wie konnte man nur so gut riechen?! Mit einem leisen Seufzen ließ sich Resa nun noch ein Stückchen tiefer in die Umarmung hineinfallen, da sie sonst drohte, den Halt ihrer Füße zu verlieren. Doch Paul, so klein er auch war, aber immerhin noch größer als Theresa, hatte sie fest im Arm. „Also kein Taxi mehr heute?", flüsterte er ihr fast unhörbar ins Ohr. „Nein, kein Taxi.", war die fast peinlich-berührte Antwort. „Okay!", Paul wechselte plötzlich die Lautstärke, löste blitzschnell die Umarmung, behielt aber seinen linken Arm auf Theresas Rücken. Mit dem rechten Arm griff er gekonnt in ihre Kniekehlen und hob sie somit unter einem weiteren, lauten „HUCH!" auf seine Arme und trug sie zielgerichtet vom Balkon. Der Erzieherin war klar, worauf er hinaus wollte und wendete keine Widerworte oder Proteste ein. Eher verstärkte sich das ohnehin schon kaum mehr aushaltbare Kribbeln in ihrem Bauch. Im Schlafzimmer machte der Gitarrist halt, ließ Resa in quälender Langsamkeit aus seinen Armen auf die Matratze gleiten und beugte sich leicht über sie, um sie erneut mit bebenden Lippen zu küssen. Nach einer halben Unendlichkeit löste er den Kuss und sah ihr eindringlich in die Augen. „Zu früh?", fragte er vorsichtig, und bremste sich in seinem eigenen Tatendrang aus. Theresa wusste genau, was gemeint war, und vor ihrem inneren Auge lief in rasender Geschwindigkeit nochmal ein Mini-Film ab, in dem sie sich selbst mit Paul im Auto auf dem Weg in den Reitstall sah, im Pool von Richard, küssend vor ihrem Hauseingang, kuschelnd im Taxi, lachend auf seinem Balkon, in seinen starken Armen, während er sie in sein Schlafzimmer trug, und der Film endete mit dem erst gerade beendeten Kuss. Einem Kuss, der so unverfänglich, süß und unschuldig war, und sich gleichzeitig so hungrig, gierig und sehnsüchtig anfühlte, dass es eigentlich nur eine Antwort geben konnte. Irgendwie sprach ihr Kopf zwar ein bisschen dagegen, aber der war sowieso ein Spießer und eine Spaßbremse. Ihr Herz aber schrie nahezu: Nein, definitiv nicht zu früh! Unfähig zu sprechen, schüttelte Theresa schluckend den Kopf. Paul brauchte wohl ein Sekunde, um zu verstehen, da war Resa ihm schon zuvorgekommen, hatte ihre linke Hand in seinen Nacken gelegt und ihn bestimmend zu sich heruntergezogen.

Tochter der Leere - Rammstein FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt