Prolog

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Es geschah an einem Sommerabend.

An einem Sommerabend, der so warm und hell war, dass die Kinder, die zwischen den Maisstauden spielten, nicht in das kalte weiße Haus am Dorfrand zurückkehren wollten.

Das Mädchen mit den braunen Locken, die so wild waren, dass kein Kamm sie je bändigen konnte, wohnte nicht in jenem Haus. Sein Haus war rot und roch in den Sommermonaten nach Erdbeeren. Das Mädchen mochte Erdbeeren und sein Zuhause mochte es ebenfalls. Doch als die alte Kirchturmuhr bereits zum achten Mal schlug, blieb auch es in dem Feld aus wogendem Mais. Denn noch lieber als Erdbeeren mochte es seine Freundin, das Mädchen mit den Bernstein-Augen, das in dem weißen Haus wohnte und wie die anderen Kinder nicht zurückkehren wollte.

Die beiden Freundinnen spielten Hasen in ihrem Spiel. Hasen, die vor den Füchsen versteckt bleiben sollten. Als schließlich ein Fuchs sie fand, rannten die Freundinnen in wilder Flucht davon. Kreuz und quer durch das Maisfeld liefen sie, bis die Kleider der beiden starr vor Dreck waren. Nie trennten sich ihre Wege, waren sie doch ein unzertrennliches Paar.

Erst als die Rufe der Füchse schon lange in der Ferne verhallt waren, kehrten sie um. Denn sie hatten beim Spielen Hunger bekommen und ihre leeren Mägen schimpften lauter, als es die alten Damen im kalten weißen Haus je vermochten.

So sie das Maisfeld verließen, kamen sie jedoch nicht zurück in ihr kleines Dorf, sondern auf eine Wiese, auf der allerlei wundersame Gewächse sprossen. Blumen wuchsen dort, so hoch wie der Kirchturm im Dorf der Mädchen und bunte Vögel zwitscherten eigentümliche Lieder.

Und doch bekamen die Kinder es mit der Angst zu tun, denn sie hatten diesen Ort noch nie gesehen. Als sie aber in das Maisfeld zurückkehren wollten, um den Weg ins Dorf zu finden, war das Feld verschwunden. An seiner Stelle stand ein Schloss mit weißen Zwiebeltürmen und weiten Toren. Ein Schloss wie aus einem Märchenbuch. Und als sich die Tore des Schlosses öffneten, ritt ein Mann auf einem schimmernden Ross heraus.

Da wunderten die Mädchen sich sehr, denn der Mann war sonderbar gekleidet, ganz wie der Prinz aus dem Märchen. Ihre Furcht aber versiegte, als sie den Mann so auf sich zukommen sahen, mussten sich doch nur böse Hexen und Drachen vor Märchenprinzen fürchten.

Der Prinz erreichte die Kinder bald und sprach mit sanfter Stimme zu ihnen.

Zunächst verstanden sie seine Worte nicht, dann aber fragte der Mann in ihrer Muttersprache nach ihrer Herkunft. Weil man dem Mädchen aus dem roten Haus verboten hatte, mit Fremden zu sprechen, antwortete es ihm nicht.

Die Freundin mit den Bernstein-Augen jedoch erklärte dem Mann, dass sie sich verlaufen hätten, und beschrieb ihm das weiße Haus, in dem das Essen nun schon ohne sie begonnen haben musste.

Da erzählte der Prinz den Kindern von seinem Land, in das sie versehentlich geraten waren. Einem Land, in dem es immer warm war, in dem die ganze Zeit getanzt und gelacht wurde und in dem jeden Tag köstliche Speisen serviert wurden. Und während er sprach, entdeckten sie immer neue zauberhafte Dinge. Tanzende Schmetterlinge, die größer waren als die Hände der Kinder, schillernde Eidechsen, deren Schuppen glänzten wie pures Gold und das gewundene Horn, das die Stirn des Pferdes zierte, auf dem der Mann saß.

Schließlich fragte der Mann, ob sie sein Land gerne sehen wollten. Da zögerten die Kinder, denn sie beide mussten schon lange in ihr Dorf zurück. Als sie ihm das sagten, lachte der Mann und schlug vor, sie auf seinem Einhorn durch sein Reich zu führen, sodass die Reise nur wenige Herzschläge dauern würde. Er erklärte, dass sie ihm lediglich versprechen müssten, brav zu sein.

Da willigte das Mädchen mit den Bernstein-Augen ein und sprach das Versprechen nach, das der Prinz ihm vorsagte. Das Mädchen aus dem roten Haus aber zauderte. Man hatte ihm nicht nur geraten, mit Fremden keine Worte zu wechseln. Auch davor, mit ihnen zu gehen, hatte man es gewarnt.

Als seine Freundin jedoch mithilfe des Mannes auf den Rücken des Einhorns stieg, folgte es seinem Beispiel, denn es wollte nicht allein zurückbleiben und auf den Besuch der Märchenwelt verzichten müssen.

Das magische Tier galoppierte los und Freude erfüllte die Herzen der Mädchen, da sprach der Prinz wieder. Mit seiner klangvollen Stimme erklärte er, dass die Kinder in seinem Land ihre wahren Namen nicht tragen durften. Und kaum waren die Worte von seinen Lippen, da hatten die Mädchen die Namen, die ihnen in dem weißen und dem roten Haus gegeben worden waren, vergessen.

Der Mann, der nicht wirklich ein Märchenprinz war, hielt sein Versprechen. Er zeigte den Kindern seine Welt, in der es nie sonderlich kalt wurde. In der die ganze Zeit getanzt und gelacht wurde, ob man wollte oder nicht. Und in der es köstliche Speisen gab, die einem die Sinne raubten.

Erst als es bereits zu spät war, bemerkten die Mädchen, die keine Namen mehr hatten, dass der Mann nie versprochen hatte, sie auch wieder in ihre eigene Welt zurückzubringen.

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