Kapitel 5 Der Teufel ist ein Seidener

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„Komm, lass mich dir auch die Lippen schminken", Nova wedelte mit ihrem Lippenstift vor meinem Gesicht herum. Ich lachte.

„Damit ich auch aussehen kann wie eine skandalöse Nymphe?"

Nova zog eine beleidigte Schnute im Anbetracht dieses wenig vorteilhaften Vergleichs. In Wahrheit stand ihr der Lippenstift natürlich hervorragend. Sie wirkte elegant und sexy, und so, wie ich mit meinem schmalen, sommersprossigen Gesicht auch mit dem besten Make-up nie wirken würde.

„Du siehst höchstens wie eine anständige, stilvolle Nymphe aus, Nova. Und mit Jules Lippen im Nude-look kommt das Augenmakeup gut zur Geltung", erstickte Mai unseren sich anbahnenden Streit im Keim.

So war sie immer. Die ruhige See, die unsere heißen Gemüter kühlte. Die Vernünftige.

Ich sah ihr nach, als sie durch Novas unordentliches Zimmer zum Spiegel tänzelte, um dort die vielen Knöpfe an ihrem Kleid zu schließen.

Nun ja, heute war sie nicht ganz so vernünftig, Nova und ich hatten ihre Vernunft mit vereinten Kräften besiegt. Sonst würden wir uns aktuell nicht voll kindischem Eifer auf ein Fest vorbereiten, zu dem wir nicht eingeladen waren.

Ich ließ den Blick über die geschminkten Gesichter meiner Freundinnen gleiten – immerhin würde uns der Gastgeber hoffentlich nicht auf den ersten Blick als ungeladene Gäste identifizieren.

Die Idee zu dem Umstyling war Nova gekommen, als sie in einem menschenweltlichen Modemagazin den roten Lippenstift fand, der mir soeben angedroht worden war. Innerhalb kürzester Zeit hatten wir darauf einen ganzen Haufen Magazine besorgt, in denen wir nicht nur weiteres Make-up fanden, sondern auch die Mode-Begriffe, mit denen wir nun um uns warfen.

„Okay, dann geht Jules eben ohne glamouröse Lippen ihre Eltern besuchen", lenkte Nova ein, „Wir müssen ohnehin los, wenn wir unser Date erwischen wollen."

Bei dem „Date" handelte es sich um einen alten Goblin, der den Fehler gemacht hatte, sich auf eine Partie Hexenquartett mit mir einzulassen.

Als wir seine Kutsche erreichten, die auf dem Rücken eines riesigen gelbglänzenden Käfers befestigt war, ging die Sonne gerade unter.

Die Nacht des Samhain hatte begonnen.

Ich wischte meine schwitzigen Hände an meinem Rock ab, während Nova den Goblin fröhlich begrüßte.

Mir blieben nur eine Nacht und ein Tag, um das Portal zu finden, in der Menschenwelt bis in unser kleines Dorf zu reisen, meine Familie zu sehen und dann die ganze Reise zurückzumachen. Für die Reise zum Portal hatte ich Vorbereitungen getroffen.

Das Einhorn von einem Untergebenen Zachlans, das ich seit Wochen mit Blütenstaub anfütterte, sollte sich unauffällig entführen lassen, wenn das Fest in der Stadt so ausschweifend war, wie man sich erzählte. Nur musste ich es dafür erst einmal finden.

Wenn das geschafft war, konnte nicht mehr so viel schiefgehen. In der Menschenwelt hatte mich das letzte Mal ein gütiger Lastwagenfahrer bis kurz vor das Dorf meiner Eltern mitgenommen. Mit ein bisschen Glück würde ich wieder jemanden finden, der mir half.

Mai, Nova und ich folgten dem Goblin in die Kutsche, wobei Nova ihn mit Fragen zum Samhain-Fest bearbeitete.

Unser grüner, spitzohriger Kutscher wirkte mürrisch, legte aber nicht die gleiche Feindseligkeit an den Tag, die so viele Bewohner der Seidenwelt uns gegenüber zeigten.

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