Kapitel 9: Wiedersehen macht Tränen

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Nachdem wir uns einander vorgestellt hatten, verfielen wir in Schweigen. Evelyn schien ein inoffizielles Wettrennen mit den anderen Autos auf der Straße zu veranstalten und wich immer wieder nach rechts aus, um einen ihrer Kontrahenten zu überholen. Ich hingegen versuchte, am Stand des Mondes abzuschätzen, wie viel Zeit mir noch blieb, bis ich wieder am Portal sein musste. Nach einer Weile gab ich auf, da zu wenig Sterne am Himmel zu sehen waren, um mir bei der Orientierung zu helfen, sodass ich nicht mal genau sagen konnte, wohin die blasse Kugel wandern würde.

„Was wirst du nun tun?", stellte ich die Frage, mit der ich mich herumplagte, seitdem wir den Pub verlassen hatten.

Ich wollte nicht noch mehr in das Leben der jungen Frau involviert werden, aber die Sorge, sie könnte dem schmierigen Pub-Besitzer oder diesem Conner in die Hände fallen, ließ sich nicht abschütteln. Vielleicht rührte mein Interesse an ihrem Wohlergehen daher, dass sie mich ein wenig an Nova erinnerte. Evelyn umkurvte einen besonders schnellen Wettrenngegner und seufzte.

„Ich werde von hier verschwinden. Ich habe ein bisschen was zusammengespart und es hält mich nichts mehr in dieser Einöde."

Sie warf einen verdrießlichen Blick auf die dunklen Felder, die hinter niedrigen Mäuerchen aus geschichteten Steinen die Straße säumten.

„Ich wollte ohnehin nie hierbleiben", erklärte sie mir, „Ich wollte immer in eine Metropole ziehen, London vielleicht."

Die Hauptstadt meines Heimatlandes kannte selbst ich.

„Warum hast du es nicht getan?"

Ich konnte mir nicht vorstellen, was eine Frau, die nicht von bösartigen magischen Wesen festgehalten wurde, davon abhielt, dort hinzugehen, wo sie hinwollte.

Evelyns bitteres Lachen erfüllte das kleine Auto: „Du hast keine Ahnung, wie oft ich mich das gefragt habe. Aber naja, du weißt ja, wie das ist, wenn man frisch verliebt ist ... Man möchte dem anderen jeden Wunsch von den Augen ablesen und Jimmys Wunsch war es nun mal, in seinem Hundertseelendorf eine Autowerkstatt aufzumachen."

Sie seufzte erneut.

„Dabei spielte es für ihn natürlich keine Rolle, dass er sich für die Werkstatt Geld von echten Verbrechern leihen musste, weil die Bank ihm nichts geben würde, oder dass seine Freundin in einer abgeranzten Bar jobben musste, um die Schulden zu bezahlen."

Ich sagte ihr nicht, dass ich keine Ahnung hatte, wie das war, wenn man frisch verliebt war. Stattdessen setzte ich eine möglichst verständnisvolle Miene auf.

„Vielleicht ist es Zeit, die Chance zu nutzen und all dem den Rücken zuzukehren."

Sie warf mir einen Blick zu.

„Ist das, das, was du gerade machst?"

Mir fiel auf Anhieb keine passende Lüge ein, also blieb ich bei der Wahrheit in ihrer schwammigsten Form: „Nur für eine Nacht."

Evelyn sah mich neugierig an.

„Musst du danach zurück zu deiner bösen Stiefmutter?"

Verwirrt zog ich die Nase kraus und sie lachte.

„Ich meine nur, das klingt ein bisschen nach Cinderella."

Vage Erinnerungen an einen Zeichentrickfilm aus meiner Kindheit kamen in mir hoch. Ich zog eine Grimasse.

„Ich würde nie meine eine Nacht in Freiheit verschwenden, um auf einen Ball zu gehen", teilte ich Evelyn mit. Dass sich außerdem Märchenprinzen manchmal als boshafte Kidnapper entpuppten, erwähnte ich nicht.

Evelyn lachte: „Du bist auch eher die coole Punkversion von Cinderella."

Ich tat, als verstünde ich, wovon sie sprach, konnte aber nicht widerstehen, das unbekannte Wort lautlos zu wiederholen: Punk?

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