Kapitel 35: Andere Länder, andere Gegner

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„Zumindest weiß ich, wo wir hingehen, nachdem wir dein Aussehen ein bisschen menschenweltlicher gemacht haben", korrigierte ich mich, als mein Blick auf Nathanel fiel.

Im hellen Scheinwerferlicht des Innenhofs war die Tatsache, dass er kein Mensch war, schwer zu leugnen.

Seine blauen Haare, die etwas grünliche Haut und die vollkommene Symmetrie seiner Züge mochten noch durch ein Haarfärbemittel, eine seltene Krankheit und einen glücklichen Zufall erklärt werden können. Die spitzen Ohren, die aus seinem Haar hervorlugten, würden allerdings definitiv für Aufsehen sorgen, wenn wir sie nicht versteckten.

Außerdem wusste ich aus den Modemagazinen, die Nova am liebsten las, dass schwarze Tuniken in der Garderobe eines Menschenweltbürgers eher nicht vorkamen. Und stark verdreckte, teilweise zerschnittene Tuniken schon gar nicht.

Das mit Abstand größte Problem aber stellte das riesige Schwert dar, das gut sichtbar an dem Gürtelband seiner Hose hing.

„Du hättest deinen Mantel nicht im Lagerraum zurücklassen sollen", stellte ich fest, obwohl der Vorwurf etwas unfair war - in dem Chaos des Nizaak-Angriffs vor ein paar Tagen hätte der Mantel sowieso nur gestört.

Nathanel quittierte meine Worte und die skeptische Musterung seines Erscheinungsbildes mit einem Schulterzucken.

„Sollen wir der Wache dort vorne ihre Jacke abnehmen?"

Ich dachte an die karminrote Uniform zurück, die der Wächter getragen hatte, und schüttelte den Kopf.

„Die würde dich wohl kaum unauffälliger machen. Außerdem tun wir uns vermutlich bei der Weiterreise leichter, wenn wir nicht gleich den ersten Menschen attackieren, den wir sehen."

Der Seidene lächelte.

„Wir müssten ihn ja nicht attackieren, wir könnten auch einfach freundlich bitten."

Meine Augen wurden schmal.

„Du hast gesagt, dass du nur im Notfall Magie in der Menschenwelt einsetzen wirst."

Wir hatten einen halben Tag lang gestritten, bis wir zu diesem Ergebnis gekommen waren.

Unbeeindruckt erwiderte der Seidene meinen Blick.

„Mit Magie könnte ich dafür sorgen, dass er glaubt, die Jacke in einem Moment der Verwirrtheit selbst weggelegt zu haben. Wenn du in seiner Situation wärst, würdest du es da wirklich vorziehen, mit körperlicher Gewalt beraubt zu werden?"

Ich starrte ihn einige Herzschläge lang wortlos an, bevor ich mich abwandte.

Die Ethik von Schattenmagie zu diskutieren, stand nach allem, was kurz vor unserer Reise durchs Portal geschehen war, außer Frage.

„Es ist egal, die Jacke nützt uns ohnehin nichts."

Ich ließ Nathanel stehen und huschte auf den kleinen Baum mitten auf der Wiese zu, die Augen wachsam auf den Torbogen gerichtet. Eine Kante trennte die Wiese vor mir von einem niedrigerliegenden Weg. Ich ließ den Blick erneut schweifen, die Hofmauern und ihre Wehrgänge entlang. Dann sprang ich die zwei Schritt zum Weg hinab... und erstarrte.

In meinem Augenwinkel bewegte sich etwas. Mein Herz zog sich erschrocken zusammen, bevor es zu rasen begann. Hatte Nathanel es unterlassen, mich von einem Wächter zu unterrichten?

Ich wandte den Kopf.

In die Anhöhe, auf der die Wiese lag, hineingearbeitet, erhob sich hinter mir eine glänzende Scheibe. Der Verursacher der Bewegung kam in mein Sichtfeld und ich richtete mich verblüfft aus meiner geduckten Haltung auf. Hinter der Scheibe stand auf einem kleinen Podest ein riesiger Rabe, der in gleichmäßigen Abständen die Flügel ausbreitete und wieder zusammenfaltete.

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