Kapitel 11

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PoV Julian

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Ihre Hand war so klein, mein Daumen dagegen riesig. 
Ich war genau so angespannt, wie sie es war, wenn nicht noch mehr, doch irgendwie glich mein Versuch sie zu beruhigen, einem Reflex.
Ihr Lächeln, das ihr daraufhin auf dem Gesicht erschien, war für mich wie eine kleine Entschuldigung dafür, dass sie mir im nächsten Moment ihre winzige Hand entzog.
Ich merkte erst, als ich grinste und wo ich mich überhaupt befand, als Sam mich böse blickend anschnauzte. Shit. Ich war bereit, mich zu verteidigen, falls nötig, doch da griff Marry schon ein. 
Ich hatte nie das Glück Geschwister zu haben und in diesem Moment wurde mit mal wieder vor Augen geführt, wie schön es sein musste. Die Beziehung der beiden schien sehr tief zu sein, denn Sam reagierte sofort auf die Worte seiner Schwester. 
Sein Blick war immer noch auf mich gerichtet. Ich hielt ihm stand, und versuchte in keinster Weise so zu wirken, als dass ich Sam noch mehr reizen könnte. 
"Chris, gehen wir hinter." In Chris' Haut will ich jetzt wirklich nicht stecken. 
Als Sam endlich seinen Blick von mir löste, fiel mein Blick auf Marry, welche den Blick nicht von ihrem Bruder nahm.
Chris legte ihr im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter, und verschwand dann mir Sam im Hinterzimmer.
Ich ließ meinen Blick durch die Runde schweifen. Keiner sah mich an, außer einer der älteren, ein Schwarzhaariger Mann, ich glaube sie nannten ihn Mandela, weil er Nelson oder so hieß.
Mit ihm habe ich mich noch nicht sehr viel unterhalten. Generell habe ich ihn bei den Treffen eher als ruhiger wahrgenommen. Sein Blick war stechend, doch bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, wurde meine Aufmerksamkeit (wieder einmal) auf Marry gelenkt.
"Er hatte einen langen Flug. Da wäre ich auch leicht reizbar." Wieder war es kurz still, bis sie erneut das Wort ergriff: "Naja, lassen wir die mal in Ruhe miteinander sprechen, aber erzählt mal, wie geht's euch denn eigentlich so?" Sie ging in Richtung der Sofas, ohne zu zögern und zu überlegen, folgte ich ihr.

Kurz bevor ich mich auf die Couch setzten konnte, nahm mir Mandela den Platz neben Marry weg. "Nicht so viel. Arbeit frisst die meiste Zeit." Als wäre die Frage nur an ihn gerichtet gewesen, antwortet dieser direkt. Marry schien kurz überrascht, ich setzte mich neben sie auf eine andere Couch. Meine Laune sank etwas. 'Was ist denn los mit mir?' dachte ich und grübelte kurz. 
Am Rande nahm ich wahr, wie der Rest der Gruppe sich auch ins Gespräch einklinkte.
Eigentlich eine sehr gute Möglichkeit, um etwas mehr über sie zu erfahren. 
Als Marcus von dem Besuch bei seinen Kindern berichtete, war ich etwas überrascht, wie offen er das erzählte. Anscheinend wusste jeder Anwesende hier über diese Geschichte bescheid. 
Mein erster Eindruck von ihm war, dass er jemand sein musste, mit dem man sich besser nicht anlegt. Dieser Eindruck hatte sich auch nicht verändert, sondern im Gegenteil: Kurz vor einem Treffen, Timmy, Jo und ich waren etwas früher dran, sah ich Dario und Cedric im hinteren Teil des Lagers, wo Trainingsmatten ausgelegt waren, sowie ein Boxsack und eine Hantelbank aufgebaut waren, kämpfen. Marcus war ihr Trainer. Als der Kampf der zwei beendet war, zeigte Marcus ihnen noch einen kleinen Trick (ich kannte ihn auch noch nicht), und dadurch konnte ich erahnen, was für ein extrem guter Kämpfer er sein muss. Dennoch schien er korrekt zu sein, und auch wenn er hier der Älteste war, verstand er sich selbst mit Yannick, dem jüngsten, wenn ich mich richtig erinnerte, blendend. Wie dieser eine coole Onkel, welche fast jede Familie hatte. Naja, fast...
Kurz kam mir die Frage in den Kopf, ob ich seine Ex wohl kannte, da sie anscheinend ja in LA leben sollte, aber das war sehr unwahrscheinlich. LA war ja riesig, und so viel Kontakt zu Leuten in Marcus' Alter hatte ich vor dem Umzug hier her nicht.
Ein Typ mit Brille, von welchem mir der Name absolut nicht einfallen wollte, erzählte auch kurz angebunden von seinen letzten Ereignissen.
"Uhlalaa..." Ich drehte lachend meinen Kopf zu Marry und sah, wie Mandela seine Beine auf ihre legte. Irgendwie gefiel mir das nicht. Ich fing seinen Blick für einen kurzen Moment, und zufrieden grinsend sah er wieder auf sein Handy. Was war das denn? Hatten die zwei etwa was am laufen? Marry und der da?
Ich wandte den Blick ab, und bemühte mich, mein Lächeln beizubehalten. 
Dario erzählte von seiner Regionalmeisterschaft, und ich meinte, davon gelesen zu haben.

Dass dieser Can nicht ganz sauber war, hatte ich schon beim ersten Treffen begriffen, als er mir Meth andrehen wollte.
Ich habe absolut nichts gegen solche Leute, manche rutschen da nicht absichtlich rein, deshalb sollte man sich, meiner Meinung nach, nicht direkt verurteilen. Aber die Storys, welche er erzählte, und das war bisher bei jedem Treffen der Fall gewesen (ich vermutete, dass das normal war), waren manchmal schon ziemlich abgefuckt. 
Gerade erzählte er über einen Kollegen, welcher sich die Spritze auf einem Trip so tief in die Haut gesteckt hatte, und dann auch noch nicht richtig getroffen, dass er sie sich durch den Arm gerammt hatte. Wow...
Als die Black Angels dann erwähnt wurden, merkte ich, wie sich die Stimmung kurz änderte. 
Die Vorgeschichte dazu kannte ich nicht genau, ich wusste jedoch, dass beide Gangs nicht sehr gut aufeinander zu sprechen waren. 
Dass Yannick besoffen gegen die Tür vom Waisenhaus gerannt ist, hatte er ebenfalls Chris zu verdanken. Er war gestern nämlich auch dabei gewesen. Da hatte ich auch von seiner Vergangenheit erfahren. 
Seine Eltern sind beide abgehauen, als er gerade Mal fünf Jahre alt war, und niemand war bereit ihn aufzunehmen. Er meinte, dass er sie verstehe, da seine Eltern noch sehr jung waren, und er nicht ganz einfach als Kind.
Nicht gerade die schönste Vergangenheit, aber ich denke, er hat hier eine neue, viel bessere Familie gefunden.
Mir rutsche ein kleines Lachen raus, was die Blicke der andern auf mich richten ließ. 
"Sorry Mann," fing ich an. "Kann ich nur gut nachvollziehen." Yannick grinste. Ich glaube, er erinnert sich noch dunkel an meinen Zustand gestern, der definitiv seinem sehr ähnlich gewesen war. "Besoffen wogegen rennen?" fragte er nach "Jaah, nur leider bin ich gegen einen Pfosten in 'na Gasse  gelaufen, und danach umgekippt." Yannick lachte, und der Rest stimmte ein, außer Marry und Mandela, wie ich sah, als ich den Kopf in ihre Richtung drehte. 
Ich achtete jedoch nur auf das braunhaarige Mädchen, und ich konnte ihren Kopf fast schon rattern hören, als sie mir einen skeptischen Blick zuwarf. "Sorry" deutete ich mit den Lippen an, und grinste sie unschuldig an. 
"Julius, kommst du bitte kurz?" unterbrach Chris, welcher durch die Hintertür gekommen war.
Und schon war meine heitere Stimmung verschwunden.
Ich spürte wieder jeden Blick auf mir, und versuchte erneut keinen Gesichtsmuskel falsch zu bewegen.
Ich stand auf und ging auf Chris zu.
Ich war schon einmal im Hinterzimmer gewesen. Das Erste mal, als ich hier war. 
Sie hatten mir dort einige Fragen gestellt, und versucht mich auszuhorchen. 
Damals war ich ähnlich nervös. 
Chris schloss die Tür und deutete mir, mich zu setzten. Ich saß Sam gegenüber, welcher mich nicht aus den Augen ließ.
"Also erstens: Lass deine Finger von meiner Schwester!" fuhr er mich direkt an.
Auch wenn mich das nicht überraschen sollte, kam das jetzt trotzdem unerwartet. Perplex stand ich da, doch Sam fuhr schon fort.
"Chris hat mir erzählt, die BA's wollten dich aufnehmen, wieso?" fragte Sam.
"Sie hatten mich kämpfen gesehen. Und ich kenne ein Mitglied aus LA." 
"Wieso bist du dann nicht dort hin?" Sams Augen ließen nicht von mir ab, aber es machte mir nichts aus. "Sie und ich sind nicht im Guten auseinander gegangen. Außerdem ist mir die Gruppe zu groß. Je mehr Mitglieder, desto mehr Risiko." Antwortete ich schlicht.
In Sams Blick änderte sich etwas. Er sah mich noch einen Moment an, dann Chris, welche hinter mir stand, und nickte ihm zu.
Bevor ich etwas tun konnte, wurde mir ein Spanngurt um den Bauch gebunden, sodass ich am Stuhl festgebunden war. Mein Herz machte einen Satz.
"Was zum..." und bevor ich auch nur den Satz zu Ende sprechen konnte, ein Stofffetzen in den Mund gestopft. Alles war jetzt zu hören war, waren gedämpfte, empörte Laute. Was ging hier vor sich? Hatte ich was falsches gesagt? Im Kopf ging ich in sekundenschnelle nochmal durch, was ich damals gesagt hatte, doch ich hatte Chris inhaltlich genau die gleichen Antworten gegeben.

Chris stülpte mir ebenfalls eine Stofftasche über den Kopf, sodass ich nichts mehr sah.
Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen, und ich hörte eine weibliche Stimme einen unterdrückten Schrei loswerden. Marry.
"WAS ZUM TEUFEL WIRD DAS HIER?" 
'Ja, das würde ich auch gerne wissen.'


Shit! He's fucking up!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt