Kapitel 1

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"Dein Pausenbrot liegt auf der Anrichte!", rief Mama mir noch zu, ehe sie hastig das Haus verließ, um sich ihrer Arbeit als Grundschullehrerin zu widmen.

Ihre eigentliche Berufung war jedoch eine ganz andere. Wie alle Frauen unserer Familie - und tatsächlich gab es gar keine Männer - war sie eine Amora. Nachfahrin des Gottes der Liebe: Amor. Genau wie ich.

Ich stopfte das Pausenbrot in meinen Rucksack und warf einen abschließenden Blick in den Spiegel im Flur. Meine blonden Haare fielen in großen Locken über meine Schulter. Dass sie sich so seidig anfühlten, hatte ich einer überteuerten Pflegeserie zu verdanken, die ich jedes Jahr zu Weihnachten geschenkt bekam. Ohne diese Produkte hätte ich Locken mit der Geschmeidigkeit von Stacheldraht. So wie meine Mutter und meine Oma sie hatten.

"Du siehst wie immer umwerfend aus. Du brauchst gar nicht in den Spiegel sehen", ließ meine Oma mich wissen.

Wie alle anderen Großmütter auch, war sie mein größter Fan und Unterstützer.

"Danke, Oma! Sind ja auch deine Gene!"

Wir grinsten uns an. Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange.

Meine Oma sah nicht wirklich wie eine Oma aus, was auch daran lag, dass sie noch sehr jung war. Sowohl Oma als auch Mama waren sehr jung Mutter geworden und so war sie gerade einmal 53. Sie war schlank und groß gewachsen, hatte dunkle Augen und immer ein Lächeln auf den Lippen.

"Viel Spaß in der Schule!"

"Danke!"

Dann verschwand ich nach draußen in die eisige Kälte. Mein Atem stieg in einer Dampfwolke vor mir empor. Ich musste genau schauen, wo ich hintrat, denn der Gehweg war überzogen mit einer hauchdünnen Eisschicht.

Wie ein Pinguin kämpfte ich mich Meter für Meter weiter. Zum Glück hatte ich es nicht weit, denn meine Schule war nur zwei Straßen weiter.

"Hey, Amy!", hörte ich eine allzu bekannte Stimme rufen, als das Schulgebäude schon in Sicht war.

Ich drehte mich um und sah in die leuchtenden Augen von Timo. Er hatte sich in eine dicke Winterjacke gewickelt, in der sein Kreuz breiter wirkte als es in Wirklichkeit war. Früher waren seine Haare feuerrot gewesen, doch mittlerweile hatten sie ein schönes Rostbraun angenommen, welches er nun jedoch unter einen grünen Mütze versteckte.

"Verdammt ist das kalt", sagte er und rieb sich seine Hände aneinander. "Deine Nase ist auch schon ganz rot!"

Ich ging auf ihn zu und begrüßte ihn mit einer herzlichen Umarmung. Solange ich denke konnte, waren Timo und ich befreundet. Er bedeutete mir alles. Als eine geborene Amora hatte das jedoch nichts mit Liebe zu tun, denn ich wusste, dass Verliebtsein strengstens verboten war. Und alles darüber hinaus sowieso. Meine Aufgabe war es Menschen zusammenzubringen. Meine eigenen Gefühle dürften dabei keine Rolle spielen. Timo war für mich einfach nur der beste Freund, den ich mir vorstellen konnte.

"Komm, lass uns schnell ins Warme gehen", ließ ich Timo wissen und zog ihn an der Hand hinter mir her.

In Tippelschritten kämpften wir uns zum Gebäude.

Sofort begann mein Körper zu kribbeln, als wir das Treppenhaus betraten und Wärme unsere Körper durchflutete.

"Offensichtlich konnten sie die Heizung reparieren", gab Timo erfreut von sich.

"Alles andere wäre bei diesen Temperaturen auch nicht mehr zumutbar gewesen."

"Das stimmt wohl. Na ja, ich muss jetzt zu Bio", entschuldigte sich Timo. "Ich habe einen Vortrag und muss noch etwas vorbereiten. Wir sehen uns in Deutsch!".

Er winkte zum Abschied und warf mir noch ein freundschaftliches Lächeln zu. Dann ging mit großen Schritten die Treppe nach oben und verschwand hinter einer Säule.

Plötzlich spürte ich einen sanften Hieb in meiner Seite.

"Amy! Du kannst mir doch nicht erzählen, dass ihr nur Freunde seid! Du hast gerade seine Hand gehalten!", sprudelte es aus dem Mund meiner besten Freundin Yva. "Und hast du gesehen, wie er dich angelächelt hat?"

Ich verdrehte demonstrativ die Augen. Schon ewig hing Yva mir damit in den Ohren. Manche Menschen waren einfach nicht in der Lage zu akzeptieren, dass zwischen Jungs und Mädchen auch einfach nur eine echte Freundschaft bestand, die nichts mit romantischer Liebe zu tun hatte.

"Es ist nichts zwischen uns und es wird auch niemals etwas zwischen uns laufen", versicherte ich ihr erneut. Ich konnte nicht überzeugter von dieser Aussage sein. Als Amora hatte man keinen Partner. Keine meiner Vorfahrin hatte je einen Freund gehabt oder war gar verheiratet gewesen. Das lag nicht in unserem Naturell. Wir erfreuten uns daran, wenn wir anderen Menschen dabei helfen konnten ihre große Liebe zu finden. Das erfüllte uns mehr als genug. Wir brauchten keinen Partner. Und wenn man es genau nahm, dürften wir auch keinen haben.

"Das kann ich dir nicht glauben. Siehst du denn nicht, dass er total auf dich steht? Er himmelt dich so sehr an und du siehst das einfach nicht. Der arme Kerl kann einem fast leid tun."

Ich schüttelte den Kopf.

Kein Normalsterblicher verliebte sich in eine Amora. Das war ausgeschlossen.

"Wir sind einfach nur sehr gut befreundet. Können wir das Thema jetzt wechseln?"

Yva verzog das Gesicht.

"Okay, hast du schon die Neue gesehen?", schweifte sie tatsächlich zu einem anderen Thema ab.

"Nein, wer denn?"
Yva machte eine Geste in Richtung Treppe, wo ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren stand. Sie hatte schneeweiße Haut und hellblaue Augen.
"Wow", kam es mir über die Lippen. "Die ist verdammt schön! Das muss man ihr wirklich lassen."

Ihr Aussehen war so besonders, sodass man davon wie hypnotisiert wurde. Ich hatte das Gefühl, dass auch alle anderen um mich herum sie anstarrten, weil sie diese Perfektion nicht glauben konnten.

"Ganz genau! Als ob man es nicht schon schwer genug hat bei der Partnerwahl. Jetzt hat man auch noch so ein Wesen als direkte Konkurrentin", beschwerte sich Yva mit neidischen Blick.
"Aber Liebe kommt doch von Herzen", berichtigte ich sie sofort, wofür ich jedoch nur ein abwertendes Lachen bekam.

"So ein Quatsch. Du solltest echt mal mehr Bezug zur Realität aufbauen. Falls du darauf wartest, dass Amor dich mit deinem Pfeil abschießt, wirst du als einsame Jungfer sterben. Liebe kommt vielleicht von Herzen, aber das Aussehen steht trotzdem immer an erster Stelle. Das nimmt man nun mal zuerst war."

Wenn sie nur wüsste. Denn es gab Amor. Zumindest hatte es ihn mal gegeben und nun waren wir da: Die Amora. Wir waren hunderte Frauen, die von Amor abstammte und weltweit dafür sorgten, dass Menschen ihr passendes Gegenstück fanden.Das machte uns zu gottähnlichen Gestalten. Äußerlich sah man keinen Unterschied, doch ich konnte Dinge tun, die Menschen nicht für möglich hielten. 

AmoraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt