Kapitel 6

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"Ah, hier bist du also. Warum verschlägt es alle in meine alte Höhle? So toll ist sie nicht."

Anuwe schnaubte und drehte seinen Zwillingsbruder demonstrativ den Rücken zu.

"Lass mich in Ruhe, Jefrandt. Ich muss nachdenken."

Nachdem er so eine Abfuhr von Doro bekommen hatte, wollte er nur noch weit weg von ihr. Deswegen war er zu der alten Höhle von Jefrandt geflogen und starrte seither die Wand an.

"Nachdenken...soso. Ich glaube eher, es sieht nach Aufgeben und Schmollen aus."

Anuwe drehte sich zu ihm um.

"Sag es schon. Ich verhalte mich kindisch. Wie immer."

Jefrandt setzte sich auf einen Stein und schüttelte den Kopf.

"Nein. Du verhältst dich wie ein Mann, der verletzt wurde. Wir sind so dumm und ziehen uns zurück, um unsere Wunden zu lecken. Das ist typisch für einen Mann."

Anuwe drehte sich wieder der Wand zu.

"Und warum lässt du mich dann nicht in Ruhe meine Wunden lecken?"

Jefrandt lachte.

"Weil ich dein großer Bruder bin. Es gehört zu meinen Aufgaben, dass ich dich nerve."

Anuwe schnaubte.

"Du bist gerade ein paar  Minuten älter als ich. Außerdem warst du jahrelang weg und hast mir keine Möglichkeit gelassen, dich mal zu sehen. Willst du jetzt alles nachholen?"

Jefrandt seufzte leise.

"Ich weiß, aber ich dachte, das ist so beim schwarzen Drachen."

Anuwe drehte sich wieder herum. Jefrandt hatte seine Ellbogen auf den Knien abgestützt und den Kopf gesenkt.

"Das war vielleicht mal so, aber es gab so viele Veränderungen. Du hättest schon beim Kampf gegen den alten schwarzen Drachen merken müssen, dass es Veränderungen gibt."

Er seufzte.

"Ich werde wohl die größte Veränderung sein, denn meine Braut weigert sich, mich zu wählen."

Jefrandt hob nun endlich den Kopf.

"Doro ist sehr unsicher. Sie will dich und unsere Familie nicht beschämen."

Anuwe schnaubte unwirsch.

"Mit was denn?"

Jefrandt lächelte traurig.

"Mit ihrer Vergangenheit. Verzeih mir, aber ich habe mich kurz in ihre Gedanken geschlichen und ich habe gesehen, was sie beschäftigt."

Anuwe sah ihn interessiert an.

"Ja? Was ist denn so schlimm an ihrer Vergangenheit?"

Jefrandt räusperte sich.

"Sie hat ihr Geld durch...nun ja...wie soll ich dir das nun erklären?"

Anuwe winkte ab.

"Ich weiß es doch schon. Sie musste sich Männern hingeben, damit sie überleben konnte."

Jefrandt riss verblüfft seine Augen auf.

"Du wusstest es? Und es macht dir nichts aus?"

Anuwe schüttelte den Kopf.

"Nein, Ich wusste es schon vor der Zeremonie. Die Menschen tratschen und ich habe es gehört. Und auf deine andere Frage zu antworten...nein, es macht mir nichts aus. Sie musste überleben, also blieb ihr nichts anderes übrig."

Die Drachen von Wikuna - Anuwe (Band 6)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt