Als Shirin am späten Nachmittag aus der Schule zurück kam, hatte die Mutter das Haus geputzt, wie früher Blumen aus dem Garten überall im Zimmer verteilt, und sie hatte Shirins Lieblingsessen gekocht. Die kleinen Schwestern maulten ein wenig herum, aber die Mutter beruhigt sie schnell: „Morgen koche ich etwas Besonderes für euch!"
Zusammen saßen sie alle nach dem Essen auf ihren Kissen und erzählten sich Geschichten davon, was sie mit dem Vater erlebt hatten. Jede hatte ein besonders wichtiges Ereignis zu schildern und zwischendurch weinten sie auch immer wieder, sogar Shirin konnte heute ein paar Tränen vergießen. Dann mussten die Kleinen ins Bett und die Mutter kochte Tee, stellte die gefüllten Gläser vor Shirin und sich und brachte eine Dose mit Keksen.
„Shirin, wir müssen jetzt für uns selbst sorgen", begann Ayla. „Ich habe keinen Mann mehr und du keinen Vater. Ein wenig Erspartes ist uns geblieben, aber nicht allzu viel. Lange werden wir damit nicht auskommen. Und es gibt niemanden, der für uns da ist. Die Tante hat uns sehr geholfen in den ersten Tagen nach Vaters Tod, aber mehr kann sie nicht tun, sie hat ja selbst kaum etwas. Deine Schwestern sind noch zu klein, deshalb musst du mir jetzt helfen, allein schaffe ich das nicht."
Shirin hörte zu und schwieg. Sie wusste nicht, wie sie mit der Mutter allein die Familie ernähren sollte. Frauen durften immer noch nur in den seltensten Fällen arbeiten und wenn sie es taten, wurden sie oft bedroht. Es gab eine Taxifahrerin, von der hatte Shirin irgendwo gelesen, die von ihren Brüdern mit Waffen beschützt werden musste, weil viele Männer es nach wie vor nicht gerne sahen, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten gingen. Es hatte sich kaum etwas zum Guten verändert in Afghanistan durch diesen Krieg, der angeblich die Frauen befreien sollte, fand Shirin. Sie durfte zwar laut Gesetz zur Schule gehen, aber auch das wurde von vielen Männern nicht gerne gesehen. Und dann, was kam nach der Schule? Frauen allein konnten noch immer kaum überleben, sie bekamen keine Ausbildung, keine feste Arbeit, wurden bedroht und geschlagen, wenn sie es wagten, ohne Burka auf die Straße zu gehen, und die wenigen Jobs, die es gab, bekam auf jeden Fall keine Frau, solange so viele Männer arbeitslos waren. Frauen wurden zur Ehe gezwungen und wenn sie sich weigerten, oft ermordet. Männer schlugen ihre Ehefrauen und verloren ihr Ansehen, wenn in der Öffentlichkeit der Anschein bestand, sie wären nicht die Gebieter zu Hause.
„Wir könnten zu Vaters Familie gehen, wo mich dann einer seiner Cousins heiraten wird", fuhr die Mutter fort. „Bei der Beerdigung wollten sie uns schon mitnehmen, aber ich war glücklicherweise zu schwach und so haben sie die Entscheidung noch aufgeschoben. Wir könnten bei ihnen leben und sie würden uns alle versorgen. Sie werden dann aber auch über euch bestimmen und euch verheiraten, sobald ihr alt genug seid."
Shirin schrak aus ihren Gedanken auf. Sie war schon bald alt genug, um verheiratet zu werden. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte zur Schule gehen und dann würde sie schon sehen, wie ihr späteres Leben verlief. Auf jeden Fall würde sie selbst bestimmen, wie es kommen würde und wen sie vielleicht einmal heiraten mochte.
„Nein, Mutter, das geht nicht ..."
„Nein, das geht nicht, da hast du vollkommen recht. Ich will das nicht für euch und nicht für mich. Aber du weißt auch, dass eine Frau ohne Mann in unserem Land nichts wert ist. Dass sie möglichst nicht aus dem Haus gehen sollte, um nicht als Freiwild für andere Männer zu gelten, und dass sie kaum eine Arbeit bekommen kann."
Shirin nickte. „Aber was können wir sonst tun?", fragte sie.
„Wir könnten nach Kabul gehen. Dort gibt es einen Ort, den Witwenhügel, wo Witwen mit ihren Kindern in selbstgebauten Hütten wohnen. Vielleicht könnte ich in der Stadt als Haushaltshilfe arbeiten? Aber wir wären dort ganz allein, ohne die Tante, ohne den Onkel, ohne irgendwelche Verwandten in der Nähe. Hier können sie zwar auch nicht allzu viel für uns tun, aber sie wohnen im nächsten Dorf und in der Not sind sie immer für uns da. Und was, wenn ich dann keine Arbeit finde oder sie wieder verliere? Und auch in Kabul ist das Leben für eine Frau allein mit ihren Kindern sehr gefährlich und unsicher."
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Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy
Genç KurguDie dreizehnjährige Shirin wächst in einem aufgeschlossenen, aber sehr armen Elternhaus in Afghanistan auf. Als ihr Vater beim Minensuchen ums Leben kommt, bleibt die Mutter mit drei Töchtern allein zurück. Um das Überleben der Familie zu sichern, m...