Gehörlos

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Er ging die belebte Einkaufsstraße entlang. Die Menschen strömten ihm entgegen und er fühlte sich eingeengt. Wie konnte es an einem Sonntag so voll sein?

Der Blick des Jungen fiel auf ein Mädchen, dass sich von der Lautstärke anscheinend nicht stören ließ. Zielstrebig lief sie durch die Masse und hielt dabei ihre Tasche fest umklammert. Plötzlich lief sie gegen einen der vielen Passanten und fiel der Länge nach auf den Boden. „Sag mal, kannst du nicht aufpassen?! Halte deinen Blick gefälligst nach vorne gerichtet, wenn du läufst!!!", herrschte der Mann sie an und machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihr beim Aufstehen zu helfen.

Der Junge rannte auf das Mädchen zu und sah sich nach dem unverschämten Mann um, der sich aber schon aus dem Staub gemacht hatte. Er streckte eine Hand aus, die das Mädchen dankbar ergriff. „Geht es dir gut?", fragte er und sah das Mädchen abwartend an. Sie nickte nur und hob ihre Tasche vom Boden auf. Die Menschen drängten immer noch an ihnen vorbei und es wurde zunehmend ungemütlich. Was war denn heute nur los?

Er nahm das Mädchen an der Hand und zog sie zu einer Bank, die etwas abseits vom ganzen Trubel stand. Sie setzte sich und er ließ sich neben ihr nieder. Abwartend sah er sie an und sie starrte zurück. „Danke", sagte sie dann und ihre Stimme klang merkwürdig farblos, als hätte sie sie lange nicht mehr benutzt. „Ich bin Raphael und du?", fragte er schließlich und wunderte sich, dass sie keine Antwort gab. Er schaute auf die Straße vor ihnen und seufzte einmal tief. Als er sie unbewusst etwas fragte und sie nichts erwiderte, fiel ihm auf, dass der ganze Lärm auf der Straße sie nicht im Geringsten gestört hatte. In Raphaels Kopf fügte sich etwas zusammen, womit er nicht gerechnet hätte. Das Mädchen neben ihm war taub, gehörlos.

Vorsichtig tippte er sie an der Schulter an und sie zuckte zusammen. „Du hörst nichts, oder?", fragte er langsam und legte seine Hände über die Ohren. Sie sah ihn überrascht an und nickte. „Nein, ich kann nichts hören.", sagte sie leise und schluckte schwer. Raphael atmete aus und sah sich das Mädchen genauer an. Sie hatte langes dunkles Haar und dunkelgrüne Augen.

Nach einiger Zeit zog Raphael das Mädchen hoch und versuchte, sie zu fragen, wo sie wohnte. Schlussendlich holte er einen Stift heraus, den er zufällig dabei gehabt hatte und schrieb auf die Rückseite seines Einkaufszettels: Wo wohnst du? Ich werde dich begleiten.

Sie sah sich die Worte an und schrieb daneben ihre Adresse. Bevor sie den Zettel zurückgab, schrieb sie noch: übrigens ich heiße Xenia. Raphael sah sie an und lächelte. „Xenia ist ein schöner Name. Ich heiße Raphael.",schrieb er. Sie grinste und nahm seine Hand. Dann zog sie ihn hoch. Er hatte ja
versprochen sie nach Hause zu bringen, also folgte er ihr durch die Innenstadt zu einem Reihenhaus.

Xenia schloss die Tür auf und ließ ihn eintreten. Sie ging in die Küche und deutete auf ein Glas. Raphael zeigte ihr den hochgereckten Daumen und so goss sie ihm Wasser ein.

Er schrieb wieder. Du sprichst nicht gerne mit deiner Stimme, oder? Sie schüttelte den Kopf und nahm ihm den Stift aus der Hand. Ich höre nicht, was ich sage und deshalb ist es für mich komisch. Zögerlich gab sie ihm den Zettel und er las interessiert die Worte, die sie geschrieben hatte. Xenia schenkte ihm ein kleines Lächeln und fuhr sich mit ihren Fingern durch die Haare. „Meinst du, wir sehen uns mal wieder?" , schrieb er, nachdem er auf die Uhr geschaut hatte. Sie nickte heftig und deutete fragend auf die Tür. Raphael schrieb wieder. „Ja, ich muss los!" Er stellte sein Wasserglas auf der Anrichte ab und ging zur Tür. Xenia folgte ihm und reichte ihm noch einen Notizzettel. „Am Freitag um 14 Uhr im Park?" Er nickte und steckte die Notiz ein. Dann öffnete er die Tür und trat hinaus. Auf dem Bürgersteig drehte er sich nochmal um und winkte, sie winkte zurück und er grinste.

Auf dem Weg nachhause schwirrte ihm immer nur der Gedanke im Kopf herum, dass er heute das erste mal in seinem Leben eine gehörlose Person getroffen hatte. Aber er mochte Xenia, sie ging recht offen mit ihrem fehlenden Sinn um, obwohl er sie heute erst kennengelernt hatte.

Als er seine Wohnung aufschließen wollte, kam ihm seine Nachbarin entgegen. Raphael seufzte genervt, als sie auf ihn zuging. Er mochte sie nicht besonders. „Ah, guten Tag Herr Graves. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mal auf einen Kaffee bei mir vorbeikommen wollen?", fragte sie mit ihrer zuckersüßen Stimme. „Es tut mir wirklich leid, Frau Parker, aber ich habe im Moment ziemlich viel zu tun und weiß nicht so genau wann ich wieder mehr Zeit haben werde. Aber wenn es bei mir weniger stressig zu geht, dann gerne.", erwiderte Raphael aus Höflichkeit. Mary Parker war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte jede Woche einen anderen Freund. Auf ihn hatte sie schon immer ein Auge geworfen, das wusste Raphael nur zu gut. Die vielen Liebesbriefe, die er von ihr im Laufe der zwei Jahre, in denen er hier wohnte bekommen hatte lagen alle in einer abgeschlossenen Schublade in seiner Abstellkammer. Mary seufzte und verdrehte die Augen. „Das ist schade, aber du weißt, dass ich auf dich warten werde, oder?", fragte sie mit Hoffnung in der Stimme, doch er schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich habe kein Interesse an einer Beziehung mit Ihnen und für Sie immer noch Herr Graves bitte", Raphael hatte es endlich geschafft, seine Tür aufzuschließen und ließ Mary einfach auf dem Flur stehen.

Kopfschüttelnd stellte er seine Tasche in den Flur seiner Wohnung und ließ sich aufs Sofa fallen. Dieser Tag war anstrengend gewesen, nicht zuletzt durch Frau Parker, die immer noch vor seiner Wohnung stand und ihn beschimpfte. Raphael schaltete den Fernseher ein und klickte sich durch die Kanäle, bis er bei einem Film stehenblieb und dabei einschlief.

Xenia saß am Fenster und schaute auf die Autos, deren Scheinwerfer in der Dunkelheit geradezu blitzten. Die Ereignisse an diesem Tag waren einfach zu viel gewesen. Sie erlebte es öfter, dass sie angesprochen wurde und die Leute dann wütend wurden, weil sie nicht reagierte. Aber so etwas wie heute war ihr noch nie passiert. Der Mann, der sie angerempelt hatte, war einfach weiter gegangen und hatte sie dazu auch noch mehr als sauer angesehen. Das versetzte ihr immer noch einen Stich, die Menschen hatten heutzutage einfach keinen Respekt vor körperlich eingeschränkten Personen. Sie seufzte lautlos und Tränen bildeten sich in ihren Augen.

Zum Glück war dieser Raphael da gewesen und hatte ihr geholfen. Sie lächelte. Er hatte sie sogar nach Hause begleitet, obwohl er das gar nicht gemusst hätte. Xenia freute sich schon darauf ihn am Freitag wiederzusehen. Eventuell konnten sie eine Möglichkeit finden einfacher miteinander zu kommunizieren als heute. Sie ließ den Kopf an das Fenster sinken und beobachtete die Autos die geräuschlos vorbeizogen.

Hände sind ihre SpracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt