Lautlose Gespräche

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Als Raphael am Freitag im Park auf Xenia wartete, kam es ihm wie Stunden vor. Dann kam sie endlich um die Ecke gerannt. Sie keuchte und ließ sich neben ihm auf die Bank fallen. „Es tut mir leid, dass ich zu spät bin, musstest du lange warten?" , sie hatte die Frage in ihr Handy getippt und hielt es ihm hin. Er schüttelte lächelnd den Kopf und holte sein eigenes Handy heraus. „Ich musste nicht warten, alles gut" , schrieb er. Sie lachte und verdrehte die Augen. Er fing auch an zu lachen und bemerkte, dass sie strahlte. Anscheinend hatte sie früher nicht viele Freunde gehabt. „Wie alt bist du?", fragte sie und er zeigte ihr zuerst eine Zwei und dann eine Drei. „23?", schrieb sie und er nickte. Dann sah er sie an und zeigte mit dem Finger auf sie und malte ein Fragezeichen in die Luft. Sie zeigte ihm mit den Fingern eine Eins und dann eine Neun. Er war erstaunt, sie sah viel älter aus als neunzehn.

Sie saßen eine Weile da ohne etwas zu „gebärden". Raphael hatte noch nie in seinem Leben ein so leises Gespräch geführt. Aber es gefiel ihm, mehr als wenn er sich mit seinen Eltern anschrie. Bei dieser Erinnerung durchströmte ihn eine Traurigkeit, die er sonst immer zu unterdrücken versuchte. Er versank in Erinnerungen an Zeiten, in denen er noch ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt hatte. Alles war gut gewesen und sie hatten fast nie geschrien oder versucht ihm weiszumachen, dass er es in seinem Leben nie weit bringen würde. Plötzlich räusperte sich jemand neben ihm und kurz darauf hörte er die kratzige Stimme von Xenia. „Worüber denkst du nach?" Erstaunt hob er seinen Kopf und griff nach seinem Handy. „Über das Leben, über Familie..." ,schrieb er und hielt es ihr hin. Sie besah sich die Worte eingehend und plötzlich rollten ihr Tränen über die Wangen. Er sah sie schockiert über ihre plötzliche Traurigkeit an, doch sie schüttelte nur den Kopf und legte ihre Arme zu einem Kreuz übereinander. Anscheinend wollte sie nicht darüber reden und das verstand er gut.

Er legte sein Handy neben sich auf die Bank und hing seinen Gedanken nach. Dann legte er aus einem Impuls heraus seine Arme um Xenia und nach einem kurzen Zögern legte sie ihren Kopf an seine Schulter und ließ sich trösten.

„Erzähle es mir", schrieb er dann und gab ihr sein Handy. Zögernd begann sie zu tippen und wurde dann immer hektischer. Als er sein Handy zurückbekam, stand eine lange Erklärung unter seiner Frage.

„Ich habe eine kleine Schwester, die ganz normal hört. Meine Eltern und sie versuchten, mir zu helfen, dass ich mich wieder an die Schule und alles gewöhne. Aber ich brauchte Zeit um mich mit meiner Situation anzufreunden und ließ niemanden mehr an mich ran. Meine Schwester lud oft ihre Freundinnen ein, um Partys zu feiern oder einfach abzuhängen. Ich hatte nie wirklich Freunde, und die, die ich hatte, gingen zu meiner Schwester, sie wollten sich nicht mehr mit mir abgeben. Irgendwann stand ich alleine da. Meine Eltern hatten es akzeptiert, dass ich nicht reden wollte, mich zurückzog.
Was sie nicht merkten, war, dass ich trotzdem Hilfe brauchte. Ich brauchte Freunde, mit denen ich sprechen konnte. Doch diese hatten sich alle von mir abgewandt. Ich kam auf eine neue Schule und musste das Jahr wiederholen. Sobald ich achtzehn war, habe ich mir eine eigene Wohnung gesucht und bin ausgezogen. Ich hielt es mit meiner Familie nicht mehr so gut aus. Meine Eltern waren damit nicht einverstanden. Sie baten mich, zu bleiben, aber ich habe nicht nachgegeben. Das war vor etwa einem halben Jahr, deshalb ist es für mich schwer, darüber zu reden. Du bist der Erste außerhalb meiner Familie, dem ich das erzähle.
Meine Tante und mein Onkel haben mich normal behandelt. Ich habe mich bei ihnen wohlgefühlt, denn sie haben mich nie anders behandelt, nur weil ich nichts mehr höre. Mit meinen Eltern und meiner Schwester habe ich keinen guten Kontakt....."

Raphael saß da und starrte auf sein Handy. Das war krass. Er hätte nie gedacht, dass Xenia so eine Vergangenheit gehabt hatte. Ohne, dass er es wollte kam ihm seine Familiengeschichte in den Sinn und er musste schwer schlucken. Seine Eltern hatten ihn adoptiert, als er ein Jahr alt gewesen war. Sie hatten es ihm bis er achtzehn gewesen war verheimlicht und als er dann seine leiblichen Eltern aufsuchen wollte, erfuhr er, dass sie nur wenige Tage vorher aufgrund eines Unfalls verstorben waren. Vorsichtig legte er Xenia einen Arm um die Schultern, woraus gleich eine enge Umarmung wurde als er merkte, dass sie weinte. Tröstend strich er ihr über den Rücken und drückte sie ganz fest an sich. Er merkte auch, dass sie versuchte, sich zu beruhigen und versagte. Sie schluchzte und die Tränen liefen ihr in Strömen über die Wangen.

Hände sind ihre SpracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt