KAPITEL 8

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Alvaro

»Er hatte einen Unfall«, brachte er stockend hervor und Alvaro starrte ihn entsetzt an. Dann sprangen Tränen aus Winces Augen. »Er ist tot! Mein Opa… ist tot.«

Fassungslos schüttelte Alvaro langsam den Kopf. Er wollte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Winces Opa… das konnte doch gar nicht sein, nicht jetzt. Wince brauchte doch seinen Opa, wie sollte er… gerade in dieser Zeit, es konnte doch nicht… nicht jetzt.
Winces Schluchzen und die weibliche Stimme aus Winces auf dem Boden liegenden Handy holten Alvaro instinktiv aus seiner Schockstarre. Ohne wirklich zu wissen, was er sagen sollte, griff er nach dem Handy. »Hallo, hier… hier ist Alvaro. Es… tut mir so verdammt leid.«
»Alvaro, wie gut, dass du bei Wincent bist«, sagte Winces Mutter, und Alvaro dachte, wie absurd es war, dass sie in einer solchen Situation zum ersten Mal überhaupt miteinander sprachen.

»Es tut mir sehr leid, dass wir…«, begann er, drehte sich wieder zu Wince, der neben ihm schwer atmete und immer noch schluchzte.
»Alvaro, kannst du Wincent nach Hause bringen? Ich weiß, ihr wolltet noch einen Tag, aber…«, fragte Wincents Mutter.
»Selbstverständlich«, sagte Alvaro. »Ich… ich kümmere mich um alles. Wenn es in Ordnung ist, komme ich mit. Ich lasse Wince nicht allein nach Hause fliegen.«
»Natürlich, vielen Dank«, antwortete Wincents Mutter. »Du bist herzlich willkommen. Wincent wollte dich die ganze Zeit schon mitbringen, aber er war ja nur unterwegs.«
Alvaro nickte, vergaß, dass sie das nicht sehen konnte und räusperte sich. »Ich melde mich, wenn ich weiß, welchen Flug wir nehmen«, versprach er und beendete dann das Gespräch.
»Das kann nicht sein«, hörte er da Wince neben sich flüstern. »Alvaro, er kann doch nicht einfach… Ich brauch ihn doch!« Er zitterte am ganzen Körper, hatte die Knie an den Körper gezogen und schlang die Arme um seine Beine. Unaufhörlich liefen ihm Tränen über die Wangen. Alvaro schloss für einen Moment die Augen, dann kauerte er sich neben Wince und zog ihn in seine Arme.
»Ich bin da, Wince«, raunte er an Winces Ohr. »Ich bin da.«
Wince löste seine Arme, schlang sie fest um Alvaros Mitte und Alvaro drückte ihn an seine Brust. Er wollte ihm Halt geben, da sein, obwohl er wusste, dass das nicht reichen würde.

Er hatte keine Ahnung, wie lange sie dort saßen, auf dem Boden seines Wohnzimmers. Es konnten Minuten sein, vielleicht eine halbe, vielleicht eine dreiviertel Stunde. Irgendwann versiegten Winces Tränen, aber er hielt Alvaro immer noch umklammert, atmete schwer, schluchzte manchmal auf.
Irgendwann versuchte Alvaro sich langsam aus der Umklammerung zu lösen. »Wince, ich… wir müssen deinen Flug umbuchen. Du musst nach Hause.«
Wince schaute auf, aber Alvaro glaubte nicht, dass er verstanden hatte, was er gesagt hatte. Er seufzte tief, zog Wince nochmal an sich und küsste ihn sanft auf die Stirn. Es stand außer Frage, dass er sich allein um alles kümmern würde. »Lass mich einfach machen, okay?«, murmelte er. »Hast du dein Ticket im Handy?«
»Ich…«, begann Wince, Alvaro sah ihn die Lippen zusammenpressen und griff zu Win es Handy, das noch neben ihnen auf dem Boden lag.
»Darf ich?«, fragte er sanft.
Wince nickte und tippte nur so langsam und mit so zittrigen Fingern seinen Entsperrungscode ein, dass Alvaro zuerst befürchtete, dass er sich vertippen würde. Rasch öffnete Alvaro die Flugticket-App, suchte nach einem früheren Flug nach Hamburg. Er fand einen freien Platz im ersten Flug am nächsten Morgen, schrieb mit Wincents Mutter, ob es okay war und sie jemand abholen könnte. Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass er für sich selbst auch ein Ticket brauchte und dass er Mariella Bescheid sagen musste. Doch zuerst buchte er ein zweites Ticket für sich.

»Wince, komm, lass uns auf die Couch«, sagte er dann sanft. »Es ist okay, wir fliegen morgen früh nach Deutschland, okay?«
Wince nickte nur stumm, wirkte wie apathisch. Alvaro legte sich seinen Arm um den Hals, richtete sich umständlich auf und ging langsam mit Wince zur Couch. Schwer ließ Wince sich darauf fallen, starrte immer noch schweigend vor sich hin. Mitfühlend küsste Alvaro ihn sanft auf den Mundwinkel, erwartete keine Reaktion. Wince hatte den Menschen verloren, der ihm neben seiner Mutter am nächsten gestanden hatte, in einer Situation, die für ihn ohnehin nicht leicht war, er befand sich in einem völligen Schockzustand. Kurz fragte Alvaro sich, wie er ihn so ins Flugzeug bekommen sollte, hoffte einfach, dass Wince sich doch bald rühren würde.
»Ich rufe schnell Mariella an, okay?«, sagte er und griff zu seinem eigenen Handy.
»Lass… mich nicht allein, bitte«, bat Wince da, völlig zusammenhangslos, und Alvaro beugte sich erneut zu ihm.
»Tu ich nicht, ich schwörs dir«, sagte er. »Ich komme mit, okay? Ich lass dich nicht allein, Wince.«
»Danke«, flüsterte Wince, seine Augen feucht, und Alvaro spürte die Schwere auf seiner Brust, als Wince wieder die Hände vors Gesicht nahm.

Nur Ein Herzschlag entferntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt