KAPITEL 9

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Wince

Der kühle Wind, der von der Ostsee herüberwehte, streichelte über Winces vom Fahrradfahren erhitzte Wangen. Es war nicht weit von seinem Elternhaus bis zum Eutiner See, nur knapp zehn Minuten, aber Wince war so schnell gefahren, weil er nicht wollte, dass jemand mitbekam, dass er geflohen war. Dass er fort musste von dem Haus, wo an jeder Ecke Erinnerungen lauerten. Erinnerungen, die Wince immer wieder überfielen, seit Alvaro und er nach Hause gekommen waren. Natürlich wusste Wince, dass das so bleiben würde, immerhin hatte ein Opa auch in diesem Haus gelebt, aber gerade ertrug er es nicht. Diese Stimmung, dieses schrecklich Vorsichtige, wie sie ihn behandelte, als könnten sie etwas an ihm zerbrechen, sobald sie ihn ansprachen.
Er war doch schon zerbrochen.

Tränen standen in Winces Augen, als er seine Fahrt stoppte und vom Fahrrad stieg. Wie instinktiv hatte er hergefunden, als hätte ihn etwas genau an diesen Ort gezogen. Diese Brücke, versteckt gelegen an einem Seiten Fluss, der in den großen Eutiner See mündete, umrahmt von Büschen, Bäumen und Blumen. Hier, von wo aus man einen flüchtigen Blick auf einen Teil des Eutiner Schlosses werden konnte, wo Bänke direkt am Seeufer zum Verweilen einluden. Diese Stelle, wo sein Opa und er früher so oft spazieren gegangen waren, als Wince ihm Songs vorgesungen hatte, sie erzählt hatten, stundenlang auf einer der Bänke gesessen und schnatternden Enten beim Vorbeischwimmen zugeschaut hatten.

Wince blinzelte die Tränen beiseite und schob das Fahrrad ein Stück hinunter zu den Bänken, lehnte es gegen eine von ihnen und ließ sich auf dem weichen Gras nieder. Er hatte so viel geweint, und doch hatte er das Gefühl, gar nicht mehr damit aufhören zu können. Die Tränen kamen einfach, sie liefen unaufhörlich, er konnte nichts dagegen tun. Der Schmerz saß so unendlich tief. Die Gewissheit, dass er nie wieder mit seinem Opa reden, lachen, singen konnte, dass er ihm Alvaro nicht mehr vorstellen, ihn zu keinem Konzert mehr mitnehmen konnte – sie hatten doch noch so viele Pläne gehabt.
Aber jetzt war sein Opa fort und Wince fühlte sich so unendlich allein. Einer der wichtigsten Menschen war jäh aus seinem Leben gerissen worden und er wusste nicht, wie er das verkraften sollte. Wie er damit umgehen sollte.
Und heute hatte er es einfach nicht mehr ausgehalten. Die mitfühlendem, besorgten Blicke, ihre vorsichtige Art, etwas zu sagen, als könnten sie etwas Falsches sagen. Alles war doch falsch.
Er hatte doch nach Hause kommen wollen, um zu sich zu finden, wollte herausfinden was sein Problem war, hatte genau darüber mit seinem Opa reden wollen. Und nun war er allein.

In seinem Kopf wirbelten Gedanken herum, Erinnerungen aus allen möglichen Situationen und Dingen, die sein Opa gesagt hatte, während sie hier an der Brücke gestanden, den Enten zugeschaut und die Abgeschiedenheit genossen hatten. Wie sollte er denn heute dabei zusehen, wie sie ihn zu Grabe trugen? Ihn für immer beerdigten?
Wince griff nach seinem Handy, ignorierte die eingegangen Anrufe von seiner Schwester, seiner Mutter, Alvaro. Er wollte doch nur ein paar Minuten für sich. Nur ein paar Minuten… allein sein. Er schob sich die Kopfhörer in die Ohren, suchte in seiner Spotify-Playlist blind nach irgendwelchen Songs, blieb natürlich bei Sarah Connor hängen und schluckte, als ihre wunderschöne Stimme sich tief in sein Herz grub.
»Wenn der Tag gekommen ist und ich meine Augen schließe, und mich mein Löwenmut verlässt, wenn der Tag gekommen ist, und ich mit dem Wasser fließe, hoffe ich, dass ihr mich nicht vergesst…«
Unaufhörlich rannen Tränen über Winces Wangen, er nahm die Hände vors Gesicht. Er wusste nicht, wie lange er dort kauerte, im Gras, aber irgendwann spürte er starke Arme, die ihn fest umschlossen, in eine enge Umarmung zogen. »Wince«, vernahm er Alvaros Stimme wie aus einem Nebel heraus, schluchzte auf und klammerte sich an Alvaro, als könnte er ihn auch noch verlassen.
»Ich vermisse ihn so sehr«, schluchzte Wince, spürte, wie sein Körper vom Schluchzen erzitterte, aber es war ihm egal.
»Ich weiß«, sagte Alvaro leise, schlang seine Arme eng um ihn. »Ich bin da, Wince. Du bist nicht allein.«

»Ich kann das nicht«, wimmerte Wince, dachte nicht darüber nach, wie Alvaro ihn hier gefunden hatte, denn es zählte doch nur, dass er da war. »Meinen Opa beerdigen, das… ich kann das nicht, Alvaro.«
»Soll ich mitkommen?«, fragte Alvaro sanft und streichelte ihm sanft über den Rücken.
»Du musst mitkommen«, bat Wince. »Wolltest du… ich dachte, du kommst eh mit Bitte, ich… ich pack das nicht alleine.«
»Er war dein Opa, Wince«, meinte Alvaro vorsichtig. »Ich wusste nicht, ob…«
»Bitte, du musst mitkommen«, flehte Wince erneut. Er schaute auf, begegnete Alvaros verständnisvollem, warmem Blick.
»Natürlich komme ich mit«, versprach Alvaro. Sanft deutete er zu Winces Fahrrad und Wince fiel auf, dass ein zweites, das seiner Schwester, daneben stand. »Aber wir sollten langsam zurück, Wince.«
Winces Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Doch er wusste, er musste es hinter sich bringen. »Okay«, nickte er bedrückt und erhob sich endlich mit Alvaros Hilfe.

Sie schoben ihre Fahrräder zurück, den Weg fand Wince ganz instinktiv. »Der See ist total schön«, meinte Alvaro, vielleicht nur um irgendetwas zu sagen.
»Opa und ich sind da immer spazieren gegangen, wenn ich zuhause war«, sagte Wince leise, gar nicht wirklich auf Alvaro antwortend. »Verdammt, ich war viel zu wenig zuhause. Ich hätte doch… Scheiße wenn ich nicht nach Barcelona geflogen wär, sondern nach Hause, vielleicht hätte ich…«
»Wince, Vorwürfe bringen niemandem etwas«, sagte Alvaro traurig. »Das hätte immer passieren können. Auch, während du auf Tour warst oder im Studio oder…«
»Ich weiß«, erwiderte Wince gequält. »Aber… ich hab Urlaub gemacht, während Opa…«
»Bereust du, dass du zu mir gekommen bist?«, fragte Alvaro leise und Wince verstand.
»Verdammt, ich… so war das nicht gemeint, ich… es tut mir leid.« Er war solch ein Idiot. Nun machte er auch noch dem Mann Vorwürfe, der bedingungslos für ihn da war, der ihn nach Hause gebracht hatte, und blieb. Ohne Wenn und Aber. Entschuldigend suchte Wince Alvaros Blick.
»Schon gut«, antwortete Alvaro sanft. »Ich versteh dich doch. Wir schaffen das schon.«

»Ich… glaub, ich möcht gern was singen«, sagte Wince irgendwann, sie waren beinahe schon zuhause angekommen. »Für Opa, ich glaube… ich muss was singen.«
Alvaro ging nahe neben ihm, griff nach seiner Hand und drückte sie versteckt zwischen ihnen. »Wenn du glaubst, dass du das tun musst, dann mach es«, meinte er. »Was willst du denn singen?«
»Das Leben ist schön«, sagte Wince. Er liebte diesen Song von Sarah, spürte in sich, dass er das tun musste. Für seinen Opa.
Alvaro nickte. »Dann mach das«, meinte er aufmunternd.
Seine Schwester warf ihre Arme schluchzend um Winces Hals, als sie sein Zuhause wieder erreichten. »Oh Wince, du kannst doch nicht… wir brauchen dich doch«, weinte sie und Wince zog sie an sich.
»Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich wollt euch keine Angst machen. Ich musste nur… raus.«
»Ich hab Alvaro gesagt, wo du immer warst mit Opa, war das okay?«, fragte sie schüchtern.
»Ja, alles gut«, nickte Wince und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Komm, wir… müssen bald los.«

Die Beerdigung war schrecklich. Dabei war die Rede des Pfarrers, den Wince schon seit seiner Taufe kannte, durchaus schön. Er hatte viele Erinnerungen eingebaut, aus den jungen Jahren seines Opas bis ins hohe Alter, und Wince musste sogar ein paar Mal lächeln.
Neben ihm schluchzte seine Mutter, manchmal leise, auf, auf seiner anderen Seite saß seine Schwester. Alvaro saß schräg hinter ihm, sodass Wince ihn sehen konnte, wenn er sich umdrehte. Vor der Zeremonie hatte Wince ihn dem Pfarrer kurz als engen Freund der Familie vorgestellt. Es tat so gut, zu wissen, dass Alvaro da war, und Wince tat es schon leid, dass er sich ihm gegenüber so verhalten hatte.

Natürlich hatte er auch mit dem Pfarrer besprochen, dass er etwas singen wollte, schließlich waren einige Freunde und Bekannte seines Opas gekommen. Er wusste bis zu jenem Moment, als der Pfarrer ihn ankündigte, nicht, ob er das packte, aber er wollte es für seinen Opa versuchen.
Winces Herz war schwer, als er nach vorne an das Pult trat, neben dem Altar der kleinen Kirche ihres Stadtteils. Der Pfarrer gab ihm ein Mikrophon, sofort suchten Winces Augen nach Alvaro. Alvaro lächelte aufmunternd. Wince holte tief Luft und begann, und seine ohnehin schon brüchige Stimme brach immer wieder ab. Als er beim Refrain angelangt war, verlor Wince seine Stimme beinahe vollständig, drohten die Tränen die Überhand zu gewinnen. »Ich will, dass ihr feiert, ich will, dass ihr tanzt, mit nem lächelnden BBlick und nem Drink in der Hand, n Heißluft allon auf dem riesengroß steht Das Leben ist schön auch wenn es vergeht…«
Wince konnte nicht verhindern, dass ihm dicke Tränen über die Wangen rannen, dass er abbrach, kein Wort mehr heraus brachte. Er atmete schwer, wollte sich am Pult festklammern, da sah er noch, wie jemand auf ihn zu gestürzt kam, nahm Alvaros vertrauten Geruch um sich wahr und ließ sich in die Arme des Mannes sinken, den er jetzt am meisten brauchte.

»Komm«, sagte Alvaro sanft und brachte ihn irgendwie wieder zu seinem Stuhl. Mit gesenkten Augen nahm Wince Platz, hörte nur verschwommen die weiteren Worte des Pfarrers. Auch den Gang zur Grabstätte nahm er nur wie aus eine Nebel wahr, schon Tage vorher hatte er mit seiner Mutter besprochen, dass er es nicht schaffte, seinen Opa noch einmal zu sehen. Natürlich hatte sie vollstes Verständnis, dass er sich dazu einfach nicht in der Lage fühlte.
Das Grab war längst in die Erde gelassen, Wince hatte gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester die ersten Spaten Erde darauf gegeben, als jemand zu ihm kam, den er überhaupt noch nicht wahrgenommen hatte. »Wince«, sagte Johannes und Wince schaute überrascht auf. »Es tut mir so unglaublich leid.«
»Johannes«, sagte er leise. »Was machst du… ich hab dich gar nicht gesehen.«
»Alvaro hat mich angerufen«, sagte Johannes und zog Wince in eine enge Umarmung. »Schon vor ein paar Tagen. Ich soll dir von Ina sagen, dass es ihr wahnsinnig leid tut, sie steckt mitten in Aufzeichnungen für ihre Show.«
Wince schlang seine Arme fest um Johannes. »Danke, dass du gekommen bist«, sagte er leise und brüchig.
»Ist doch selbstverständlich, Bro«, antwortete Johannes. »Komm, wir gehen zu euch nach Hause.«
Umrahmt von seiner Mutter, seiner Schwester, Johannes und Alvaro ließ Wincent sich nach Hause bringen, schämte sich dafür, dass er seinen besten Freund nicht einmal bemerkt hatte und war sich gleichzeitig so dankbar, dass Johannes gekommen war. Seine Mutter hatte einen Apfel-Mandelkuchen gebacken, den Lieblingskuchen seines Opas, und sie saßen an diesem Nachmittag noch lange zusammen, redeten, aßen, tranken Kaffee und schwelgten in Erinnerungen.

Irgendwann viel später fand Wincent die Kraft, sich in sein Zimmer zurück zu ziehen. Alvaro folgte ihm, setzte sich mit ihm auf sein Bett, an die Bettwand, und Wincent war ihm so unendlich dankbar, als er ihn schweigend einfach nur in seine Arme zog. Kurz darauf klopfte es, Johannes trat ein, deutete auf die Bettkante. Wince nickte nur, Johannes ließ sich darauf nieder und zu dritt saßen sie einfach nur da, ohne lange etwas zu sagen.
Alvaro war der erste, der irgendwann das Wort ergriff. »Ich wollt dir noch was zeigen, Schatz«, sagte er sanft.
Wince schaute auf, begegnete Johannes‘ Schmunzeln, begriff erst da, was Alvaro eigentlich gesagt hatte. »Hast du mich gerade…«, begann er, mit brüchiger Stimme.
Alvaro hielt inne, er hatte nach seinem Handy gegriffen, und nickte lächelnd. »Hab ich schon n paar Mal«, meinte er. »Ist dir nur nicht aufgefallen.«
Wince fühlte die Wärme, die Dankbarkeit, dass Alvaro so bedingungslos für ihn da war, die Schwere und Taubheit seiner Gedanken durchbrechen. »Danke«, murmelte er beschämt. »Dass ihr…«
Alvaro beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft auf die Mundwinkel. »Alles gut, Wince. Schau mal, wer dir geschrieben hat.«
Winces Herz machte einen Sprung, als er den Kommentar von Sarah Connor sah. Sie schauten sich das Video an, Wince fühlte sich so durcheinander, weil ihre Stimme so wunderschön war, weil er diesen Song so sehr liebte, es selbst nicht geschafft hatte, den Song heute zu singen. Mit leicht zittrigen Fingern langte er nach seinem eigenen Handy, das er seit Tagen nicht mehr entsperrt hatte. Wenigstens hatte Alvaro daran gedacht, es aufzuladen. Hunderte Nachrichten ploppten auf, von seinen Jungs, Jeanette, vielen Freunden. Aber zuerst wollte Wince Sarah antworten und schrieb ihr eine Privatnachricht bei Instagram.
»Hi, Sarah, sorry, dass ich jetzt erst antworte. Es war… so schwer die letzten Tage. Mein Opa wurde heute beerdigt. Ich vermisse ihn so sehr. Danke für dein Video, es ist so unfassbar schön. Liebe Grüße Wincent.«

»Wince, ich… müsste kurz etwas mit dir besprechen«, sagte Alvaro da vorsichtig und berührte sanft seine Schulter. Mit fragendem Blick wandte Wince sich zu ihm. »Ich muss morgen für einen Tag weg«, fuhr Alvaro fort. »Ich hab doch dieses Konzert in Damp am Strand. Mariella hat alle anderen Termine die nächsten zwei Wochen abgesagt, bis meine Deutschland-Tour beginnt, aber den Termin kann ich nicht absagen. Matt Simons tritt auf, und… Paddy. Ich werd mit ihm zwei Songs singen.«
Leichte Unruhe erfüllte Wince, in der Aussicht, mit seinen Gedanken, Sorgen und der Trauer alleine zu sein, er schaute zu Johannes, dann griff er nach Alvaros Hand. »Kannst du nicht… bei mir bleiben?«, bat er leise, denn in allem, was er nun brauchte, war es niemand so sehr wie Alvaro. Er war immer da gewesen, hatte ihn, nicht gedrängt, war einfach nur an seiner Seite, und Wince war ihm so unendlich dankbar.
Er sah, wie Alvaro und Johannes einen besorgten Blick tauschten. »Ich komme am Abend noch wieder«, versprach Alvaro. »Damp ist doch nur eine Stunde von hier. Ich kann Paddy nicht absagen, Wince. Danach bin ich wieder nur bei dir, okay?«
»Wär‘s okay, wenn ich da bleibe?«, schlug Johannes vor. »Bis übermorgen. Dann kannst du in Ruhe dein Konzert spielen und du bist nicht allein, Wince.«
»Das wär super, danke dir, Mann«, sagte Alvaro, hörbar dankbar.
Wince nickte. »Danke«, sagte er leise. »Wissen die anderen das mit meinem Opa eigentlich schon? Ich mein, Paddy und so? Ich hab irgendwie gar nichts mehr mitbekommen, sorry.«
»Ich hab Jeanette und Paddy angerufen«, nickte Alvaro. »Und etwas in unsere Gruppe geschrieben. Deine Managerin hat auf den Social Media gepostet, was passiert ist, weil die Konzerte abgesagt wurden. Alle haben Verständnis, Wince, deine Fans machen sich große Sorgen.«
»Vielleicht lade ich die Tage ein Cover hoch oder so«, meinte Wince. Dann fiel ihm etwas ein. »Aber die Stars for Free-Konzerte hat Julie nicht abgesagt, oder? Die will ich auf jeden Fall machen.«
»Glaubst du, das wär jetzt ne gute Idee?«, fragte Johannes vorsichtig.
»Ich will die auf jeden Fall machen«, bekräftigte Wince. »Die sind erst in zwei Wochen, sind nur drei Konzerte. Ich muss Julie anrufen, ich muss die machen.« Wince rutschte zur Bettkante und stand auf, suchte nach der Nummer seiner Managerin.
»Sarah ist auch dabei«, hörte er Alvaro sagen und nickte heftig.
»Ah«, schmunzelte Johannes. »Das erklärt einiges.«

Er sprach kurz mit Julie, die ihm ihr tiefstes Mitgefühl aussprach, und sich freute, dass er anrief. Weil sie wusste, wie sehr sich Wince schon im Vorfeld auf die Stars for Free-Konzerte, die Ende August an einem Wochenende in drei verschiedenen Städten stattfinden sollten, hatte machen wollen, hatte sie die Reihe noch nicht abgesagt, wollte abwarten, wie er dazu stand. Wince war überzeugt, dass er das schaffen würde; es waren nur drei Konzerte, er wollte diese Reihe unbedingt machen. Lena war Teil der Reihe, Michael Schulte, Matt Simons, die Band Juli und natürlich Sarah. Er freute sich schon das ganze Jahr über darauf, zumal die Konzerte mit Chemnitz, Berlin und Magdeburg nicht weit entfernt waren. Dennoch freute sich Julie, dass er die Reihe machen wollte, bat ihn aber auch, ehrlich zu sein wenn er sich bis zu den Terminen nicht in der Lage fühlte, aufzutreten. »Alle werden Verständnis haben, Wince«, meinte sie. »Mich erreichen ganz viele Nachrichten von der Fancrew erreicht. Vielleicht könntest du die Tage etwas posten.«
»Ich will einen Coversong hochladen«, sagte Wince. »Johannes ist gerade hier, vielleicht machen wir etwas zusammen.« Er erzählte, dass Alvaro auch bei ihm war, aber die nächsten zwei Tage unterwegs sein würde.
»Oh ja, macht das doch zusammen«, meinte Julie. »Ihr beide seid so toll zusammen.«,
»Machen wir vielleicht«, nickte Wince. »Also, Julie, ich melde mich.«
»Danke für deinen Anruf, Wince«, verabschiedete sich Julie, die inzwischen auch eine enge Freundin geworden war. »Bleib stark, okay?«
Wince fühlte prompt wieder Tränen aufsteigen, schluckte und nickte. »Ich versuchs. Danke.«

Alvaro fuhr am nächsten Tag gegen Mittag los. Wince fiel es schwer, ihn gehen zu lassen, hatte er sich doch so sehr daran gewöhnt, Alvaro um sich zu haben. Er brauchte die Geborgenheit, die Alvaro ihm gab, seine Fürsorge, seine Liebe, so so sehr, aber natürlich wusste Wince auch, dass er Alvaro nicht immer bei sich haben konnte. Und er war unendlich froh und dankbar, dass Johannes bei ihm blieb.
Nach dem Mittagessen saßen Johannes und er im Garten. Wince hatte mit Benni telefoniert, sich dafür entschuldigt, dass er sich nicht bei seinen Kumpels gemeldet hatte, und ihm gesagt, dass er die Stars for Free-Konzerte machen wollte. Gerade schrieb er mit Sarah, die auf seine Nachricht gefragt hatte, ob er in guter Obhut war, dass sie ihn sehr gut verstehen konnte. Und natürlich fragte sie, ob er sicher war, dass er die Konzerte machen wollte.
»Ich will das unbedingt«, schrieb Wince zurück. »Ich hab mich das ganze Jahr schon drauf gefreut, mit dir aufzutreten. Das ist so eine große Ehre für mich.«
»Weißt du was, ich schick dir mal meine Handynummer«, antwortete Sarah da. »Falls du reden möchtest so, du kannst dich immer bei mir melden. Ich freu mich auch sehr auf die Shows.«
»Ey«, sagte Wince und seine Hände zitterten tatsächlich ein wenig, als er Johannes den Chat zeigte. »Sarah hat mir ihre Nummer geschickt. Das ist so krass, ne.«
Johannes klopfte ihm schmunzelnd auf die Schulter. »Du bist so n Fanboy, was Sarah angeht«, grinste er. »Hey, sollen wir nicht den Song aufnehmen, den du posten willst? Hast du dir schon überlegt, was du singen willst?«
Wince war klar, dass Johannes versuchte, ihn irgendwie zu beschäftigen, und er war seinem Kumpel dankbar für die kurze Ablenkung. »Klar. Ich dachte, etwas von Alvaro… er ist so für mich da, hat mich nach Hause gebracht… alles abgesagt für mich… ich wollt mich bedanken.«
»Ach, ihr zwei seid einfach süß«, grinste Johannes. »Willst du’s dann übersetzen?«
»Ja«, meinte Wince. »Vielleicht Nino perdido. Ich hab Jennifer Version so geliebt.«
»Oh ja, ich auch«, nickte Johannes. »Dann lass mal loslegen.«

Sie druckten sich den spanischen Songtext von Nino perdido im Zimmer von Wincents Schwester aus und begannen mit der Übersetzung. Wince stockte der Atem, als er begriff, wie sehr der Song gerade passte, und als sie beim Refrain angelangt waren, kullerten erneut Tränen über seine Wangen. In Südafrika war ihm nicht bewusst gewesen, wie persönlich dieser Song war, aber nun, die Zeilen übersetzt zu lesen, war es zu viel für ihn. Johannes legte die Gitarre beiseite und zog ihn in eine Umarmung. »Lass uns nen anderen Song nehmen«, schlug er vor.
»Nein«, schniefte Wince. »Ich liebe die Melodie und Alvaros Stimme, wenn er es singt, so sehr. Weißte, wenn wir nochmal nach Südafrika fahren würden, würd ich den Song machen.«
»Okay«, meinte Johannes. »Wenn du dir sicher bist.«

Am Ende kämpfte Wince sich mit Tränen in den Augen und einem Kloß im Hals einmal durch den Song und liebte die deutsche Version doch sehr. Sie machten eine Pause, als Wincents Mutter zum Abendessen rief, nahmen danach eine Version auf und Wince fand es ganz gut. Er musste in dieser Situation nicht perfekt klingen. Alvaro schickte ihm ein Selfie von der Bühne, auf dem er neben Paddy zu sehen war, im Hintergrund das Meer und die Bühne, und Wince fühlte, wie sehr er ihn bereits vermisste. Er fühlte sich so schrecklich allein, obwohl Johannes nach Kräften versuchte, ihn abzulenken, einen Film eingeschaltet hatte, aber Wince erkannte nicht einmal, welcher Film es war. Wieder konnte er die Tränen nicht zurück halten, spürte Johannes‘ Arm um sich und klammerte sich an den Freund.
»Alles ist gut, Wince«, raunte Johannes. »Du bist nicht allein, Kumpel. Wir sind alle da, okay?«
»Warum lässt er mich denn allein?«, schluchzte Wince. »Er hat doch versprochen, dass er bei mir bleibt. Ich brauch ihn doch, Johannes.«
»Alvaro ist doch bald wieder da«, strich Johannes ihm sanft über den Rücken.
»Aber ich kann ihn nicht auch noch verlieren, Johannes«, wimmerte Wince. »Wenn ich Alvaro verliere… er kann doch nicht einfach weg sein.«

»Wince, Alvaro kommt wieder«, mahnte Johannes sanft, aber bestimmt. »Er ist nur heute weg. Du bist nicht allein, er tut alles für dich.«
Wince schluchzte nur, vergrub das Gesicht an Johannes‘ Brust, und so blieben sie sitzen. Wince wusste nicht, wie lange, es spielte auch keine Rolle. Irgendwann schrieb Alvaro ihm, dass es später werden würde, weil das Konzert länger gedauert hatte. Wince scrollte ein wenig durch Instagram, stockte dann, als er Fotos und Videos der Konzerte am Strand in Damp sah. Alvaro wirkte gelöst, tanzte mit Paddy zu La Cintura, machte Witze mit Paddy, der den Songtext zu Happiness vergeigte. Er feierte zu La Libertad, tanze ausgelassen zu El Mismo Sol und animierte das Publikum. Am Ende zog er sich sogar das blau-weiß karierte Hemd aus, tanzte nur noch mit T-Shirt, und Winces Herz zog sich vor Sehnsucht schmerzhaft zusammen.
»Mach mich jetzt auf den Weg, Schatz«, schrieb Alvaro kurze Zeit später, und Wince schnaubte. »Bis später.«
»Guck mal«, sagte er bitter und zeigte Johannes das Video. »Er scheint Spaß gehabt zu haben. Hat er mich schon vergessen?«
»Wince, er hat seinen Job gemacht«, mahnte Johannes. »Das ist es, was wir tun. Die Leute mitnehmen.«
Wincent schüttelte den Kopf. »Er hat mich im Stich gelassen«, schniefte er und sah, wie Johannes tief einatmete. »Ausgerechnet jetzt, wo ich ihn am meisten gebraucht hätte.«
»Ach, Wince«, seufzte er und zog ihn erneut in eine Umarmung.

Wince schlief irgendwann ein, während er noch immer auf Alvaro wartete und die Uhr an seinem Display bereits halb zwölf nachts zeigte. Er hörte im Halbschlaf, wie Alvaro später leise zu ihm ins Bett kroch, lag nur abgewandt von ihm und reagierte auch nicht, als Alvaro einen sanften Kuss in seinen Nacken hauchte. Dabei sehnte er sich so sehr nach Alvaro, nach seiner Wärme, seiner Liebe. Doch allmählich machte sich auch die Erschöpfung der letzten Tage breit und Wince schaffte es nicht einmal mehr, sich umzudrehen.
»Schlaf gut«, flüsterte Alvaro noch und zog dann die Decke über sie.

Am nächsten Morgen fühlte Wince erneut die Enttäuschung, weil Alvaro so gefeiert hatte, als wäre nichts geschehen. Er erzählte während des Frühstücks vom Konzert, davon, wie cool es gewesen war, Paddy mal wieder zu sehen, wie die Leute mitgefeiert waren, 4.500 Fans. Wie er es geliebt hatte, wieder einmal auf der Bühne zu stehen.
Geräuschvoll ließ Wince seinen Kaffeelöffel fallen und stand auf. »Wince«, zuckte Alvaro neben ihm zusammen. »Was ist?«
»Wie schön, dass wenigstens du Spaß hattest«, sagte Wince anklagend und ignorierte Johannes‘ mahnenden Blick. »Du… hast es dir ja echt gutgehen lassen. Ich hab die Videos gesehen. Ich hätt dich gebraucht, aber… das scheint ja keine Rolle mehr zu spielen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, ignorierte Johannes‘ »Wince, was soll das jetzt?«, auch Alvaros fassungslosen, betroffenen Blick, und verließ das Esszimmer, während Tränen in seinen Augen schimmerten.

Nur Ein Herzschlag entferntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt