KAPITEL 11

721 30 39
                                    

Wince

Wie versteinert stand Wince da, wollte singen, wollte es wirklich. Aber kein Laut verließ seine Lippen, er konnte es einfach nicht. Konnte diesen Song nicht singen. Tränen stiegen in ihm auf, er blinzelte, wollte nochmal ansetzen. Aber er konnte den Song nicht singen, seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Er vergaß dass er vor hunderten Menschen stand, Bilder aus der Vergangenheit zogen wie im Schnelldurchlauf an ihm vorbei, er und sein Opa, wie sie zusammen gelacht, gesungen, geredet hatten.
»Leute, wir machen eine kurze Pause«, vernahm Wince Benni wie aus einem Nebel heraus, dann legte sich ein starker Arm um. Seine Schultern und unter verhaltenem Applaus verließen sie die Bühne.

»Wincent, alles okay, ist etwas passiert?«, fragte Sarah, die sich hinter der Bühne schon auf ihren Auftritt vorbereitete, erschrocken, und legte eine Hand auf Wincents Schulter.
»Er wollte den neuen Song singen«, hörte Wince Benni erklären. »Spuren, den er für seinen Opa geschrieben hat. Aber…«
»Ich kann’s nicht«, sagte Wince leise und mühte sich die Tränen zurück zu halten. Verzweifelt wandte er sich ab. Herrgott, er hatte einen Auftritt! Und nun heulte er auch noch vor Sarah Connor! »Scheiße, Mann, ich muss doch wieder auf die Bühne, die Fans…«
»Wince«, sagte Sarah sanft und drückte seine Schulter. »Du bist doch keine Maschine. Es ist okay, zu trauern, das musst du sogar. Vielleicht war das doch noch bisschen zu früh heute, hm?«
»Nein, ich… ich wollte das hier unbedingt«, antwortete Wince. »Das ist was so Besonderes mit all den anderen Künstlern hier, mit dir…«

»Wince, wenn du es nicht packst, ist das trotzdem okay«, sagte Sarah sanft. »Das ist doch total normal. Quäl dich nicht, nur weil du glaubst, dass du da durch musst.«
»Ich muss wieder auf die Bühne«, sagte Wince. »Die Fans sind doch auch wegen mir hier, ich kann doch jetzt nicht einfach…«
»Doch, du kannst«, meinte Sarah, hörbar besorgt. »Wenn es zu viel ist, ist auch das okay. Du musst nicht nur… funktionieren. Du bist auch Mensch, Wince.«
»Ich… versuchs nochmal«, sagte Wince. »Es war gut, bis… bis dieser Song kam. Gehen wir?«, wandte er sich an Benni.
Der schaute ihn besorgt an. »Sobald du merkst, dass es nicht geht, brechen wir ab. Klar soweit?«
Wince schaute seinen Kumpel, dessen Stimme wirklich streng war und keinen Widerspruch zuließ, an. »Okay«, nickte er und atmete tief durch. »Danke«, sagte er dann, peinlich berührt, zu Sarah. »Ich wollt echt nicht vor dir…«
»Wince, das ist absolut okay«, meinte Sarah und zog ihn in eine freundschaftliche Umarmung. »Vergiss nicht… es ist okay, auch auf der Bühne Mensch zu sein.«
Wince nickte dankbar, wirklich dankbar für den Zuspruch, trank noch einen langen Schluck Wasser und holte tief Luft, versuchte sich zu sammeln.

»Wir lassen Spuren aus, okay?«, sagte Benni, bevor es zum zweiten Mal losging. »Das ist doch noch zu nah.«
Wince nickte nur, dann sprangen sie unter lautem Jubel wieder auf die Bühne. Er trat ans Mikro, wartete, bis die Fans einigermaßen ruhig waren und sagte: »Also, ich… wollt ja meinen neuen Song singen, aber… ich pack das heute nicht. Es tut mir echt leid, aber… das ist alles noch so nah, ich hoffe, das ist okay für euch.«
Applaus brannte auf, dann schaute Wince sich zu seinen Jungs um und sie starteten mit Was machst du nur mit mir?, das Wince wieder Mut und Kraft gab, den Auftritt durchzuziehen.
»Ey, du hast diese Art an dir, die mir so gut gefällt, was machst du nur mit mir? Ziehst mich zu dir rüber, jetzt steh ich neben dir und auch irgendwie neben mir.«
Und Winces Gedanken fokussierten sich nun auf Alvaro, er dachte daran, wie bedingungslos Alvaro für ihn da war, der ihm die Kraft gab, weiter zu machen, diesen Auftritt durchzuziehen. Für die Fans, die auch extra wegen ihm hergekommen waren. »Was machst du nur mit mir? Wenn du mich so ansiehst und auch irgendwie anziehst, ich kann doch nichts dafür, dass mir alles egal ist, Ey, solange du da bist…«
Er spürte schon, dass seine Stimme brüchig war, wusste, dass sicherlich auch über diese Auftritt wieder viel geschrieben werden würde, aber das spielte doch alles keine Rolle. Er hatte Alvaro an seiner Seite, er war nicht allein. Und Wince fühlte, dass er weitermachen konnte. Dass die Musik ihm dabei helfen würde.

Unendlich erleichtert atmete Wince hinter der Bühne tief durch und ließ sich von Benni und den Jungs umarmen. »Hey, wir haben’s geschafft«, klopfte Benni ihm auf die Schulter. »Du hast es geschafft. Sei stolz auf dich, Bro. Wir sind’s.«
»Ich hab’s nur geschafft, weil Alvaro irgendwie dabei war«, sagte Wince leise. »In meinen Gedanken und… allem, halt. Ohne ihn hätt ich das nicht gepackt.«
»Du hast n verdammtes Glück mit Alvaro«, meinte Benni. »Wenn du das mit ihm verbockst, weiß ich echt nicht mehr.«
»Werd ich nicht«, versprach Wince. »Ich bin unendlich dankbar, dass ich ihn habe.«
»Jetzt lass uns Sarahs Auftritt genießen, hm?«, meinte Benni augenzwinkernd.
Und Wince genoss Sarahs Auftritt, sehr, genoss es, dieser wundervollen Sängerin zuzuhören und von backstage zuzuschauen. Sein Auftritt hatte wirklich Spaß gemacht, es hatte gut getan, wieder auf der Bühne zu stehen, und Wince freute sich schon auf den nächsten Tag, wenn sie in Berlin waren. Sie wollten die Nacht durchfahren, zuhause ein paar Stunden schlafen und dann sollte es schon zur Wuhlheide gehen.

Wince wartete hinter der Bühne, bis Sarah strahlend schön wie vorher, als hätte sie nicht gerade einen anstrengenden Auftritt hinter sich gebracht, zu ihm kam. »Wow, du warst so mega gut«, umarmte Wince sie begeistert. »Echt, es war richtig cool, dir zuzusehen.«
»Ich freu mich, wenn ich dir ein bisschen beim Abschalten helfen konnte«, schmunzelte Sarah. »Fahrt ihr gleich nach Berlin oder hättest du Lust, dass wir noch was essen gehen vor der Fahrt?«
Wince schaute rüber zu Benni, der ihm grinsend zuwinkte, zum Zeichen, dass sie schon fahren wollten. Sie hatten für dieses eine Wochenende keinen Tourbus gemietet, fuhren in ihren Autos, was auch absolut okay war. »Sehr gern«, meinte Wince, der prompt spürte, wie sein Magen knurrte. »Wow, ich hab echt Hunger.« Es war das erste Mal seit dem Tod seines Opas, dass er wirklich Hunger verspürte.
Sarah schmunzelte und sie machten sich rasch auf den Weg. »Ey, früher wär mir echt das Herz in die Hose gerutscht, wenn du mich gefragt hättest, ob wir etwas zusammen essen gehen«, meinte Wince, und Sarah lachte.
»Und jetzt nicht mehr?«, stupste sie ihn freundschaftlich mit dem Ellbogen in die Seite.
»Ein bisschen vielleicht noch«, gab Wince zu, musste dabei selbst grinsen. Er hatte sie doch schon einige Male getroffen, sie hatten einen Song zusammen geschrieben, aber es war eben immer noch etwas Besonderes, seine absolute Lieblingssängerin zu treffen. »Aber ich bin dankbar, dass ich jetzt nicht allein irgendwo hocken muss.«
»Gesellschaft tut gut, vor allem in solch einer Situation, auch wenn man eigentlich allein sein möchte«, meinte Sarah verständnisvoll. »Glaub mir, das kennt jeder von uns, mehr oder weniger.«
»Guck mal, da vorne ist ein spanisches Restaurant«, deutete Wince auf das nächstgelegene Restaurant. »Lust auf spanisch?«
»Da kennst du dich ja dank deines Urlaubs neulich jetzt bestens aus, stimmt’s?«, schmunzelte Sarah und sie steuerten das Restaurant an.
»Oh ja, Barcelona ist echt ein Traum«, schwärmte Wince. »Ich hab’s sehr geliebt und gebraucht. Auch, wenn es nur eine Woche war.« Und danach die Katastrophe über ihn hereingebrochen war, aber dafür konnte Alvaro ja nichts – am allerwenigsten.
Sarah lächelte erneut. Sie fanden eine kleine Nische, etwas abgelegen von den anderen Tischen, setzten sich und bestellten Tapas; Sarah erzählte, dass sie Tapas liebte.

Das Essen wurde schnell gebracht, natürlich schien die junge Kellnerin sofort recht aufgeregt, als sie Wince und Sarah erkannte. Sie bemühte sich, ihren Job professionell zu machen, war sehr nett und Wince nahm sich vor, ihr später ein Foto anzubieten. Auch wenn natürlich klar war, dass Kellner und Kellnerinnen bei solchen Gästen besonders aufmerksam waren. Glücklicherweise war nicht mehr so viel los; es war elf Uhr abends, die meisten Jugendlichen zogen jetzt in die Discos und Clubs. Wince war froh, dass sie überhaupt noch ein Restaurant gefunden hatten, das geöffnet war.
Sie redeten über dies und das, genossen das Essen, die Tapas waren genau richtig. Wince konnte sich nach einem Konzert keine riesige Mahlzeit reinziehen, Tapas waren perfekt und erinnerten ihn prompt an Barcelona. Als alles noch in Ordnung gewesen war. Wince seufzte und dachte kurz, dass er sich nicht mehr runterziehen lassen wollte. Er trauerte immer noch, das würde auch noch eine Weile so bleiben, aber es hatte gut getan, auf der Bühne zu stehen, und er wollte weiter machen.
»Alles okay?«, fragte Sarah da und Wince fiel auf, dass er ein paar Minuten nichts gesagt hatte.

»Ähm… ja, sorry, ich… musste nur gerade wieder an meinen Opa denken, und… das kommt so plötzlich, ich kann das nicht steuern.« Er holte tief Luft, wollte den Kloß, der seine Kehle zuschnürte, loswerden. »Tut mir leid.«
»Wince,, das ist absolut okay«, meinte Sarah. Sie griff über den Tisch nach seiner Hand, drückte sie sanft. »Das wird auch noch eine ganze Weile so sein, ist doch ganz normal. Du vermisst ihn, er war der wichtigste Mensch für dich. Das geht nicht einfach so weg.«
»Ich weiß«, sagte Wince leise. »Dabei will ich doch… weiter machen. Es tut gut, wieder auf der Bühne zu sein, Musik zu machen.«
»Und daran musst du festhalten«, meinte Sarah. »An allem, was dir guttut. Dein Opa hätte ja bestimmt auch gewollt, dass du weitermacht, oder? Du wirst immer an ihn denken, und er wird immer da sein.«
»Ja, das hätte er gewollt«, sagte Wince. »Danke. Echt, ich…. wollt jetzt nicht die Stimmung verderben oder so.«
»Alles gut, Wince«, meinte Sarah sanft lächelnd. »Übrigens war es sehr cool, dich mal wieder live zu sehen. Du bist so, so gut geworden in den letzten Jahren. Ich bin ein bisschen stolz auf dich, wenn ich das sagen darf.« Sie zwinkerte.

»Wow, danke, also das… bedeutet mir echt viel, wenn jemand wie du das sagt«, räusperte sich Wince verlegen und doch ein bisschen stolz. »Welchen Song fandest du am besten?«
»Ich muss ja sagen, dass mich Was machst du nur mit mir am meisten berührt hat«, gab Sarah zu. »Du warst so sehr bei dir, hast aus so vollem Herzen gesungen. Also, bei den anderen Songs auch, aber da besonders. Ich hatte das Gefühl, dass der Song dir besonders viel bedeutet.«
Wince lächelte sanft. »Ja, das stimmt. Ich hab den Song ja erst vor einem halbe Jahr geschrieben, kurz nach Südafrika.« Er biss sich auf die Lippen, aber gleichzeitig wusste Wince, dass er Sarah vertrauen konnte. Sie wusste genau, wie das Showbusiness war, kannte die Tücken und berauschenden Seiten. Wenn jemand alle Schwierigkeiten kannte dann war sie es.
»Ja, Südafrika ist etwas sehr Besonderes, das stimmt wohl«, schmunzelte Sarah. »Es verändert alles, nicht bei allen musikalisch oder die Karriere, aber persönlich verändert diese Show jeden. Es war das wunderbare, spannendste und aufwühlendste was ich jemals gemacht hab.«
»Oh ja«, nickte Wince. »Geht mir genauso.«
»Und… gibt es denn jemanden, für den du den Song geschrieben hast?«, erkundigte sich Sarah. »Wenn du mir davon erzählen willst, natürlich.«

»Ich… äh, also ja«, gab Wince zu und räusperte sich verlegen. »Ich hab den Song tatsächlich für jemanden geschrieben. Also, ich… kommunizier das ja nicht so krass, aber ich… bin ja schwul, und… naja, bin in einer Beziehung. Ich bin… mega happy und unendlich dankbar, dass ich ihn gerade habe er… ist der tollste Mann, den ich hätte haben können.«
»Das freut mich sehr, Wince, wirklich«, sagte Sarah, sichtlich erfreut. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer das ist, jemanden kennenzulernen, wenn man homosexuell und Musiker ist.«
»Sehr schwer«, gab Wince zu.
»Ist es denn jemand Bekanntes? Also, weiß er, wie schwer dein Leben ist? Wenn du es erzählen möchtest, natürlich. Du kannst dich selbstverständlich auf mich verlassen, das weißt du hoffentlich«, meinte Sarah.
»Ja, das weiß er sehr gut«, nickte Wince. Er zögerte nur noch einen Augenblick, dann gab er sich einen Ruck. Er wollte zu Alvaro stehen, irgendwann ja auch öffentlich, also konnte er es auch Sarah anvertrauen. »Es ist Alvaro. Also, Alvaro Soler. Wir haben uns in Südafrika ineinander verliebt, und… ich bin unendlich glücklich, dass er bei mir ist. Auch, wenn ich gerade echt nicht leicht bin und überhaupt nicht weiß, womit ich ihn verdient hab«, sagte Wince leise und plötzlich brannte Sehnsucht in seiner Brust auf. Eine Sehnsucht, die er seit dem Tod seines Opas nicht mehr verspürt hatte.

»Alvaro? Wow, okay, das hätte ich jetzt echt nicht gedacht«, meinte Sarah. »Wobei man ja auf euren Fotos, auch aus Südafrika, schon gesehen hat, wie close ihr schon immer wart. Ich freu mich total für dich, Wince. Gerad jetzt ist es wichtig, dass jemand für dich da ist.«
»Alvaro ist unfassbar für mich da«, sagte Wince leise. »Er hat meinen Flug umgebucht, als meine Mum angerufen hat wegen Opa, ist gleich mitgekommen, damit ich nicht allein fliegen muss, ist zwei Wochen und sogar länger bei uns geblieben. Dazwischen bat er noch ne Show gespielt in Damp und ich… war so unfair zu ihm. Ich hab ihm vorgeworfen, dass er da Party gemacht hat, dabei… hat er nur seinen Job gemacht. Und er ist trotzdem da geblieben… ich war echt ein Arsch.« Es war, als begriff Wincent erst jetzt, wie unfair er sich Alvaro gegenüber wirklich benommen hatte wie undankbar, wie selbstverständlich er seine Unterstützung angenommen hatte. Er rieb sich über die Brust und seufzte. Am liebsten wäre er sofort zu Alvaro gefahren, sich mit allem, was er hatte entschuldigt. Nun war es an ihm, sich etwas einfallen zu lassen. »Sorry, dass ich dich damit vollgelabert hab«, fügte Wince rasch hinzu.
»Alles gut«, sagte Sarah sanft. »Ich bin sicher, dass Alvaro weiß, wie du das gemeint hast. Dass er weiß, wie verzweifelt du warst. Es ist gut, dass du ihn hast.«
»Oh ja«, sagte Wince leise. »Ohne ihn… hätt ich das alles nicht geschafft.« Er erzählte nichts von seinen Depressionen, denn das war ein so persönliches Thema, darüber konnte und wollte er nicht reden; nicht jetzt.
»Hey, was hältst du davon, wenn wir morgen in Berlin Vincent zusammen singen bei meinem Auftritt?«, schlug Sarah da vor und Wincents Herz machte einen nervösen Sprung.
»Du meinst… ich mit dir zusammen?«, fragte er mit leicht zitternden Stimme.
»Ja, das meine ich«, lachte Sarah. »Also, wenn du das hinbekommst, ich würd mich riesig freuen.«
»Ich auch, ey, das wär so unfassbar geil«, freute sich Wince. »Ich glaub, ich krieg heute Nacht kein Auge zu.«
Sarah lachte erneut. »Aber sei vorsichtig beim Fahren«, schmunzelte sie. »Schließlich wollen wir das beide morgen Abend erleben.«,
»Ich schwörs, ich bin super vorsichtig«, sagte Wince aufgeregt. Und jetzt überwog tatsächlich die Vorfreude, die Aufregung und das Kribbeln im Bauch, schon am nächsten Abend wieder auf die Bühne zu dürfen. Und er wusste dass sein Opa sich mindestens genauso für ihn freuen würde.

Das zweite Konzert der Stars for free-Reihe in Berlin war ebenso riesig wie das erste in Chemnitz. Neben Rea Garvey und Lena waren auch Welshley Arms am Start, die DJs von YouNotUs, die mit ihrem mega Cover des 90er Hits Narcotic einen riesen Hit gelandet hatten, Lena, die mit Nico Santos ihren gemeinsamen Hit Better sang, und Sido, der Werbung für die neue Staffel von the Voice of Germany machte, die bald gedreht werden sollte. Wincent war tatsächlich aufgeregt, weil es mit knapp 17.000 Fans das bisher größte war, was er jemals gespielt hatte, und weil die Wuhlheide eine atemberaubende Location war. Ähnlich wie die Waldbühne war die Wuhlheide in Form eines Amphitheaters und Wince knipste beim Soundcheck ein Foto, das er Alvaro schickte.
Alvaro hatte Termine an diesem Abend, hatte es leider nicht geschafft, vorbei zu kommen, aber Wince wollte auch nicht mehr von ihm verlangen. Alvaro hatte schon genug für ihn getan. Und auch, wenn er am nächsten Tag schon in Magdeburg zum nächsten Stars for Free-Konzert erwartet würde und sie eigentlich ein Hotelzimmer in Magdeburg gebucht hatten, um am nächsten Morgen in Ruhe zum Auftritt zu fahren und nicht in den Berufsverkehr gerieten, fühlte Wincent plötzlich, dass er Alvaro sehen musste. Er musste einfach. Er wusste, dass Alvaro heute spät zuhause sein würde, selbstverständlich übernachtete er wieder bei Wince, denn er hatte ein paar Radiointerviews. Vielleicht konnte Wince…

»Ey, Bros, wär‘s okay für euch, wenn ich morgen nach Magdeburg nachkomme?«, fragte Wince, als sie etwas später vom Backstage-bereich aus Lenas Konzert verfolgten. Die Fans feierten sie und jubelten, und Wince freute sich schon tierisch darauf, endlich auf die Bühne zu dürfen. Er war erleichtert, sich nicht mehr nur wie gelähmt zu fühlen, sondern wieder er zu sein, auch wenn die Gedanken an seinen Opa allgegenwärtig waren und sie Spuren wieder aus dem Programm genommen hatten. »Ich… ich muss Alvaro sehen, ich… hab soviel Mist gebaut die letzte Zeit.«
»Kein Thema«, klopfte Benni ihm sanft auf die Schulter. »Solange du pünktlich an der Location bist…«
»Bin ich«, versprach Wince, umarmte seine Freunde der Reihe nach und murmelte ein leises »Danke. Ich weiß, ich war nicht einfach. Danke, dass ihr bei mir seid.«
»Immer«, sagte Flo. »Weißte doch.«

Das Konzert war der absolute Hammer. 17.000 Fans, die aus vollem Hals zu Feuerwerk, Kaum erwarten, und all den anderen Songs mitsangen. Sie feierten ihn und hielten wie in Chemnitz hunderte Plakate in die Höhe, auf denen stand »Wince, wir sind bei dir«, »Viel Kraft, Wince«, und anderes, und Wince war unendlich dankbar für den Zuspruch. Noch aufgeregter verfolgte er Sarahs Konzert, und dann rutschte ihm doch ein wenig das Herz in die Hose, als sie ihn ankündigte.
»Den nächsten Song singe ich zusammen mit einem ganz lieben Freund, den ihr heute schon gesehen habt. Ich freu mich total, dass wir den Song zusammen singen und dass das heute Abend hier in Berlin sein wird. Hier ist nochmal für euch Wincent Weiss und der Song Vincent!«, rief Sarah ins Mikrofon.
Wince sprang unter ohrenbetäubendem Jubel auf die Bühne, sein Herz hämmerte wild gegen seine Brust, als Sarah ihn umarmte. Und dann setzte schon die Musik ein und Sarah nickte ihm zu.

»Sarah sagt, ich krieg kein‘ hoch, wenn ich an Mädchen denk, ich hab es oft versucht und mich echt angestrengt«, sang Wince seinen umgedichteten Text, Sarah lachte laut auf und die Menge grölte aus 17.000 Kehlen mit. »Alle meine Freunde spielen GTA, ich tauch lieber ab und tanz zu Beyonce.«
Sarah stimmte in den zweiten Vers ein und es war ein atemberaubendes Gefühl, diesen Song mit ihr zusammen vor so vielen tausend Menschen zu singen. »Er denkt nur an ihn, und an den Tag, als er ihn zum ersten Mal sah, so cool stand er da und Vincent war klar, dass das jetzt wohl Liebe war, Mama, ich kann nicht mehr denken…«
Kurz dachte Wince an Alvaro, daran, wie sie sich beim Kennenlerntreffen und später in Südafrika gegenüber gestanden waren, und er wusste, dass er Alvaro heute einfach überraschen musste. Ihm etwas zurückgeben musste, für alles, was Alvaro für ihn getan hatte.
Noch voller Adrenalin, Stolz und Freude, weil er mit Sarah hatte auftreten dürfen, sprang Wince nach dem Auftritt hinter die Bühne. »Alter, das war so geil!«, schlug er noch völlig überwältigt in Bennis Hand ein.
»Ihr wart mega«, lobte Benni. »Ich freu mich so, dass du wieder ein bisschen der Alte bist.«
»Das werd ich wohl nie mehr«, meinte Wince. »Aber… es fühlt sich ein bisschen so an wie früher.«
Benni umarmte ihn freundschaftlich. »Wird schon alles wieder, Bro. Wir sehen uns in Magdeburg?«
»Bis morgen«, nickte Wince. »Ich freu mich. Und das meine ich so.« Er umarmte all seine Jungs der Band.
»Wir uns auch«, nickte Flo. »Bis morgen.«

Wince schmunzelte, als er sich von Sarah verabschiedet hatte und dann nach einer Weile endlich sein Handy checkte und sich auf den Weg in seine Wohnung machte. Alvaro hatte geschrieben, dass er noch bei einem letzten Termin war, bald aber in die Wohnung fahren würde. Wince besorgte Döner, was Alvaro auch liebte, wie er inzwischen wusste, und fuhr eilig in seine Wohnung. Er deckte den Tisch in der Küche mit einer schönen Tischdecke und Tischsets, stellte Kerzen auf und legte die »Sing meinen Song«-CD ihrer Staffel in den CD Player.
Erst dann sprang er in Windeseile unter die Dusche und zog frische Klamotten an. Zurück in der Küche schob Wince den Döner nochmal in den Ofen, griff zu einer Weinflasche und schmunzelte, als er aus dem Flur die Wohnungstür klappen hörte.
»Oh mierda, hab ich vergessen, das Radio auszu…«, hörte Wince Alvaro zu sich selbst sagen und schmunzelte deutlicher. Sehnsucht wallte in seiner Brust auf, und kurz dachte, Wince, dass er diese schmerzliche Sehnsucht nach Alvaro das erste Mal seit dem Tod seines Opas wieder fühlte. Er hatte so lange einfach gar nichts mehr gefühlt, war wie betäubt gewesen. Vielleicht hatte Benni Recht und er wurde doch allmählich wieder der alte Wincent.

»Nein, hast du nicht«, sagte er und schaute auf, als Alvaro in die Küche kam, wie angewurzelt im Türrahmen stehen blieb und ihn anstarrte.
»Was zum… was machst du hier?«, fragte Alvaro völlig verwirrt.
»Überraschung«, lächelte Wince und in seiner Brust wurde es warm, als er Alvaros freudigem Lächeln begegnete. »Ich hab gedacht, ich bleib über Nacht. Magdeburg ist ja nur zwei Stunden, und ich dachte, du hast vielleicht Hunger nach dem Interviewmarathon.« 

Nur Ein Herzschlag entferntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt