kapitel eins: der erste tag

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Sie schlug langsam ihre Augen auf. Helles Sonnenlicht bahnte sich einen Weg durch die Ritzen ihrer Jalousie. Sie vernahm das nervtötende Piepsen ihres Weckers und setzte sich genervt auf, wobei sie schwarzen Flecken, die ihre Sicht vernebelten, und den dumpfen Kopfschmerz ignorierte. Sie schlug die Bettdecke zurück, stand langsam auf, bis sie sich sicher war, dass sie nicht umkippen würde und schaltete das Gerät ab. Sie seufzte leise, denn heute begann der erste Tag ihres letzten Schuljahres. Danach würde sie endlich eine Stufe aufsteigen! Noch war sie eine Anatolia, aber genau um diese Zeit nächstes Jahr würde sie zur Aurorin erhoben werden, nur ein kleiner Schritt bis zur vollkommenen Erleuchtung, aber immerhin ein Anfang. Außerdem würde sie die Erleuchtung in diesem Leben eh nicht mehr erleben, so hatte man ihr es zumindest in beigebracht.

Sie hörte ein sanftes Klopfen an ihrer Tür. Das musste Jeannette sein. Sie war eine Dysia, noch Mitglied der vorletzten Stufe. Sobald sie in einem Jahr eine 18-Jährige Aurorin war, musste sich Jeannette nicht mehr um sie kümmern und konnte ihr restliches Dasein als Arktia verbringen. Dies war die letzte und, nach Chloes Ansicht, weitaus die Entspannteste aller Stufen. Sie warf einen Blick auf ihre Notizen zu Lebenskunde und las sich nochmals kurz die vier Erleuchtungsstufen durch:

1. Anatolis

2. AURORA

3. DYSIS

4. ARKTOS

Sie als Anatolis war allein für ihre Bildung zuständig, die ab der Geburt begann. Sobald ihr Jahrgang 18 Jahre alt war, wurden sie zu Auroren, übten einen, den Erleuchteten würdigen, Beruf aus und gründeten eine Familie. Als Dysia im Alter von 50-75 Jahren würde sie sich um die Kinder kümmern müssen, das war die Stufe, die Chloe am Wenigsten zusagte. Arktoren hatten keine besonderen Aufgaben, außer der Beantwortung von Fragen der jüngeren Stufen und der Vorbereitung auf die Erleuchtung, was auch immer das sein würde. Niemand wusste es genau, man erlebte die Erleuchtung ja schließlich erst an seinem darstellte.

„Chloe, hör auf zu Träumen und mach dich fertig! Du willst doch nicht an deinem ersten Tag zu spät kommen!", kreischte Jeannette ihr unangenehm von hinten ins Ohr. Sie war klein und zierlich, hatte aber eine unglaubliche Lautstärke im Verhältnis zu ihrer Körpergröße. Sie war so etwas wie Chloes Mutter, obwohl man sie wohl eher als Erzieherin bezeichnen könnte, da ihre leibliche Mutter wie alle anderen Aurora den ganzen Tag arbeitete und wie ihr Vater nicht mit Jeannette und Chloe in einem Haushalt lebte.

„Ja, Jean", antwortete Chloe genervt und wartete, bis die Dysia das Zimmer verließ, bevor sie ihre neue Uniform anzog. Die Uniform der Erleuchteten bestand aus einem weißen Faltenrock, der Chloe genau bis zur Mitte ihres Oberschenkels reichte. Nach langem Protest der Schüler gab es als Alternative für Jungen oder Mädchen, die sich unwohl fühlten, hochgeschlossene, weiße Hosen. Dazu trugen sie ein Hemd mit einem himmelblauen Pullover darüber.  Chloes Blazer, der die Uniform abrundete, war mit den Abzeichen versehen, die sie in ihrer Schullaufbahn verdient hatte: zweimal Schülersprecherin, dreimal Gildenleiterin, fünfmal „Hohe Errungenschaften im Bereich Naturwissenschaften und natürlich ihr allerliebstes Gärtnerabzeichen.

Aber genug Träumerei. Sie zog ihren Blazer sowie ihre weiß-blau gestreiften Kniestrümpfe an und öffnete ihre Zimmertür. Um ihren alten Kater Mimi, der im engen Flur in seinem Körbchen schlief, nicht zu wecken, schlich sie auf Zehenspitzen durch das lichtdurflutete, hölzerne Treppenhaus. Sie wich allen knarrenden Stufen aus und genoss das Gefühl des warmen Bodens unter ihren Füßen. Als sie unten angekommen war, betrat sie das Wohnzimmer und ihr lief beim Anblick des gedeckten Frühstückstisches das Wasser im Mund zusammen. Aus der Küche kam Jeannette mit einem Teller voll Blaubeerpfannkuchen, Chloes Lieblingsgericht. Jeannette setzte den Teller auf Chloes Platz ab, diese setzte sich hin und betrachtete den Pfannkuchen, der mit feinem Puderzucker und zartschmelzender Sahne angerichtet war. „Danke, Jean!", konnte Chloe nur kurz murmeln, bevor sie die Pfannkuchen hinunterschlang und dabei genüsslich die Augen schloss.

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