kapitel sechs: veränderung braucht zeit

5 1 0
                                    

„Kommst du endlich, Elena?", schrie Marline von unten, „du kommst sonst zu spät!".

„Verdammte Scheiße", fluchte Elli vor sich hin, aber so leise, dass sie ihre Haushälterin nicht hören konnte.

„Ja", rief sie dann aber nach unten, „ich bin gleich da." Schnell schnappte sie sich ihre Schultasche, in die sie wahllos Bücher warf, von denen sie hoffte, wenigstens ein paar Richtige zu erwischen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, welche Fächer sie heute hatte, aber wenn sie ehrlich war, dann interessierte es das im Moment eh nicht. Wozu das alles?

Aber sie konnte sich jetzt nicht den Gedanken um ihre sinnlose Existenz beschäftigen, dafür hatte sie ja auch noch im Unterricht Zeit, was sie dort lernten war eh mehr Fiktion als Realität.

„Wenn Mr. Barnaby wüsste," dachte Elena fast schon gehässig, „was er mit diesem Projekt angerichtet hat. Er hätte es sich zweimal überlegt. Und wäre dann wahrscheinlich hingerichtet worden. Wie so viele andere... Obwohl, vielleicht wird er das ja. Ich hoffe, die anderen aus der Schule denken so wie ich. Ich hoffe, sie haben das gesehen, was ich gesehen habe."

Schnell rannte sie die steinernen Treppen hinunter, die sich unangenehm kalt unter ihren Fußsohlen anfühlten.

Unten angekommen, fing sie sich einige tadelnde Kommentare von Marlin ein und bekam ihr Mittagessen, ein Salat mit Kernen und Gemüse, wie immer. Anfangs hatte sie Marlin noch manchmal gefragt, ob sie denn nicht wie Nele oder Chloe manchmal ein Sandwich bekommen könnte. Nein, hatte die Antwort gelautet, für die jährliche Zeremonie müsse sie präsentabel sein, dann würde sie, Marlin, vielleicht endlich das begehrten Haushälterauszeichnung bekommen.

Denn die Zeremonie, bei der die Ältesten Arktoren ihre Erleuchtung erlangten, wurde durch eine Reihe von Auszeichnungen eingeleitet, die die besten und gesetztestreuesten Erleuchteten erhielten. Es gab eine Vielzahl an Kategorien, zum Beispiel bester Schüler, größtes Talent, bester Dysier oder bester Funke.

Elli fand es immer noch lächerlich, die ach so ehrenvollen Beamten, die unter der Lichtregierung an zweiter Stelle standen, als „Funken" zu bezeichnen. Aber als sie darüber nachdachte, konnte sie durchaus Parallelen der meist wohlgenährten, kleinen Beamten, die gleichzeitig überall und nirgendwo zu sein schienen, mit den fliegenden Funken eines Feuers erkennen.

„Hab einen schönen Tag, Elena", flötete Marlin, als hätte sie Elli nicht gerade mehrfach getadelt und griff nach dem Staubsauger, um ihre erste Putzrunde des Tages zu beginnen.

Seufzend und leicht widerwillig in Anbetracht des vor ihr liegenden Schultags zog Elli sich ihre Schuhe an und verließ das Haus, wobei sie die Tür mit einem demonstrativ lauten Knall schloss.

Sie musste sich beeilen, sonst würde sie den Bus noch verpassen und dann müsste sie sich in der Schule als fehlend eintragen. Dann bekäme sie eine Strafe, denn sie war ja für genau diese Fahrt und keine andere berechtigt.

Sie verfiel in einen schnellen Lauf, die Schultasche lagerte schwer auf ihren Schulterknochen, die sich, wie sie neuerdings bemerkt hatte, zu ihrem Missfallen deutlich durch ihre Haut abzeichneten. Marline würde das wohl gefallen, dass sie abgenommen hatte. Schließlich lag sie so dann trotz ihrer Größe, die bei den Messungen nicht miteinbezogen wurde, im unteren Normalbereich. „Darum geht es doch immer hier", dachte Elli verächtlich, „normal sein, nicht negativ auffallen, allem folgen, was man vorgesetzt bekommt. Das ist doch krank..."

Sie konnte schon in der Ferne die Bushaltestelle erkennen, lief aber nach einem Blick auf die Uhr noch schneller, denn eigentlich sollte der Bus jeden Moment um die Ecke biegen. Sie sah auch schon Chloe und Nele wartend an der Haltestelle, die sich nach ihr umsahen und, als sie sie entdeckten, ihr hektisch zuwinkten und bedeuteten, sie solle sich beeilen.

the watcherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt