kapitel drei: wachsen

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Es war ein wunderschöner Anblick, der Garten war mit Beeten aller Art und verschlungenen Wegen gesäumt und wurde von Bäumen umrahmt. Er befand sich vor einer Talsenke, hinter der sich ein weit aufragendes Gebirge befand, dessen weiße Gipfel sich bis in den azurblauen Himmel erstreckten. Dem Auge waren keine Grenzen gesetzt, es schien durch die aus diesem Blickwinkel nicht erkennbare Senke, als ob sich die Berge bis zum Horizont erstreckten und alles, was Chloe hätte tun müssen, um sie zu erreichen, wäre geradeaus zu gehen. Es löste in ihr ein unbeschreibliches Gefühl aus. Sie hatte keinen Namen dafür.

„So muss sich Freiheit anfühlen", dachte sie.

„Freiheit" war ein altertümlicher Begriff aus der Dunklen Ära, den sie in Lebenskunde durchgenommen hatten. Man benutzte ihn heutzutage nicht mehr, weil alle Menschen durch ihren festen Platz in der Ordnung der Lichtregierung frei waren . Trotzdem konnte Chloe es nicht bestreiten, dass sie daran manchmal zweifelte. Doch sie wusste, sie musste vorsichtig sein. Nichts war ihr Eigen, nicht einmal ihre Gedanken.

Sie setzte ihren Weg durch den Garten fort und nahm einen der verschlungenen Pfade, der sie mit einem kleinen Umweg zum Gewächshaus führte, dessen reflektierendes Glas sie bereits in der Ferne über den Wipfeln einiger Bäume und durch das Gestrüpp einiger Büsche ausmachen konnte. Chloes Schritte beschleunigten sich leicht angesichts der Aussicht, den Rest ihrer Mittagspause im Gewächshaus zu verbringen und neue Projekte dafür zu planen.

Sie passierte auf ihrem Weg den Medizingarten, der nunmehr eher symbolisch von alten Klostergärten Europas inspiriert war und keinem wirklichen Zweck mehr diente. Zu ihrer Linken hatte sich zu Beginn des Weges die Laubbaumpassage erstreckt, jetzt befand sich dort jedoch der antike Statuengarten. Die Statuen waren natürlich nicht echt, sondern Nachbildungen oder Projizierungen, genau wie das Bergmassiv, das sie vorher so bewundert hatte. Schaute man genau hin, so konnte man manchmal ein vereinzeltes Flimmern der Projektion erkennen.

„Schon komisch" dachte Chloe, „früher hätte die Schule wahrscheinlich wirklich so ausgesehen". Sie wusste nicht, was sich hinter der Projektion verbarg, vermutlich befanden sich dahinter aber Fabriken oder andere Industrieproduktionen.

Sie folgte dem Pfad weiter, bis sie vor den verglasten, mit weißem, geschwungen geformten Metall umrandeten Türen stand. Langsam legte sie die Hand auf die kühle Klinke, atmete gefühlt das erste Mal heute tief durch und trat ein. Sie wurde von dem ihr so gut bekannten Geruch nach feuchter Erde und kondensiertem Wasser empfangen und legte den Kopf in den Nacken.

Über ihr wogten große und kleine Blätter in allen Formen und Farben. Sonnenlicht durchflutete das Gewächshaus und schien durch die Glaspaneele auf die üppige Vegetation im Inneren, bahnte sich aber am Boden nur diesig seinen Weg durch die Blätter. Vor Chloe befand sich ein schmaler, mit Ziegelsteinen ausgelegter Pfad, der sich durch das gesamte Gebäude schlängelte und dabei genug Platz für die daran angrenzenden Beete ließ. Das Gewächshaus war nicht, wie es früher üblich gewesen war, auf verschiedene Klimazonen beschränkt. Durch den Fortschritt der Gentechnik hatte man alle Pflanzen so modifiziert, dass diese bei den gleichen Temperaturen und bei gleicher Luftfeuchtigkeit ohne . Deshalb erstreckten sich, soweit Chloes Auge reichte, Bäume, Sträucher und sonstige Pflanzen aller Art, von stacheligen Kakteen über europäischen Blumen bis hinzu tropischen Schlingpflanzen. Alle lebten aber in einer fast friedlich erscheinenden Gemeinschaft, das Mikroklima des Gewächshauses war für Chloe einzigartig. Nicht einmal die berühmten Zoos oder Botanischen Gärten besaßen diese Pflanzenvielfalt auf so geringem Raum, wahrscheinlich aber nur, weil sie es sich leisten konnten, ihre Pflanzen nach ihren einstigen Klimazonen in verschiedenen Gebäuden bei ausreichendem Platz unterzubringen.

Das Gewächshaus war nicht unbedingt klein, aber in Anbetracht der mittleren Größe befanden sich verhältnismäßig viele Pflanzen auf engem Raum. Das lag an Chloes Planung, denn sie hatte sich am lichtarme Pflanzen und ein kleiner, von den anderen Gewächsen abgetrennter Pilzgarten. Im Moment war dieser jedoch nur ein Hochbeet voller Erde, da Chloe am Ende des letzten Schuljahres alle Pilze geerntet und in einem kleinen Verkauf losgeworden war. Es waren hauptsächlich Dysier, die sich mit frischen Pilzen versorgen wollte, da die Pilze in den Supermärkten oft längere Transportwege hinter sich hatten. Sie wurden nämlich in speziellen Pilzbunkern gezüchtet, die aber wegen der anspruchsvollen Bedingungen nicht unter Wohn- oder Industriegebieten liegen durften.

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