Die nächsten Tage verliefen wieder nach demselben Muster. Chloe konnte sogar wegen der entfallenden Projektstunden länger schlafen, aber brachte es nicht über sich, noch einmal das Home Dock über die Kameras zu befragen. Stattdessen vermied sie das Thema "Blinde" und "Projekt" gänzlich, was nach einigen Tagen auch Elli und Nele auffiel. Die Beiden hatten großen Gesprächsbedarf deswegen, da sie in ihrer Freizeit anscheinend nichts lieber taten, als „heiße" Jungen zu beobachten.
„Wisst ihr", stellte Nele eines Tages fest, „die Blinden sind gar nicht so dumm, wie ich immer dachte. Klar, sie sind unglaublich beschränkt in ihrer Weltsicht und die Allgemeinbildung – schrecklich!" Elli lachte und ergänzte: „Ja, du hast Recht Nele, ich hatte sie mir auch etwas... primitiver vorgestellt. An uns kommen sie natürlich geistig nicht ran, aber so dumm wie wir in Lichtkunde lernen, sind sie dann doch nicht. Ich finde es wirklich interessant, wie sie auch ohne Augenlicht ihren Alltag meistern."
Chloe blieb stumm und sah weg, woraufhin Elli bei ihr nachhakte: „Chloe, was meinst du dazu? Wieso bist du immer so still, wenn wir von den Blinden reden? Ist irgendwas los?". Chloe sammelte sich langsam, sie hatte schon früher oder später mit dieser Nachfrage gerechnet und sich darauf vorbereitet, also erwiderte sie:
„Nein, wirklich, alles gut. Ich war nur ein bisschen müde in letzter Zeit."
„Wirklich?", fragte Nele misstrauisch, „wir haben doch viel später Schule wegen den Projektstunden?"
„Ja", stimmte ihr Chloe zu und sah auf, „aber ich kann nicht so gut schlafen. Muss der Stress der Oberklasse sein".
Sie zuckte mit den Schultern und ergänzte wegen der besorgten Gesichtsausdrücke ihrer Freundinnen: „Wirklich. Mir geht es gut. Ich kann nur langsam nicht mehr über die Blinden hören. Projekt hier, Projekt da, es geht nur noch darum spannend ist es auch nicht, sie zu beobachten, eigentlich arbeiten sie ja nur." Elli sah aus, als wolle sie Chloe widersprechen, aber Nele stupste sanft ihren Arm an und bedeutete ihr damit, das Thema vorerst bei dem jetzigen Stand zu belassen. Seufzend gab Elli nach, aufatmete.
Zum Glück läutete darauf die Schulglocke, welche das Ende der Zwischenpause und den Beginn der nächsten Unterrichtsstunden einleitete und Chloe damit aus der unangenehmen Situation verhalf. Es war Freitag, also lagen nur noch eine Stunde Stoffkunde, in der die Schüler alles nötige über verschiedenste Baustoffe und Chemikalien lernten, das manche von ihnen später noch als Bauleiter oder benötigen würden. Es interessierte Chloe nicht großartig, doch der Lehrer, Mr. Spitzburgh, ein mittelgroßer, streng aussehender Mann, der doch mit seinem aufgeweckten und durchaus lustigen Wesen die Stunden interessant auszufüllen vermochte.
Danach folgte Chloes Lieblingsfach, Botanik. Es war ein kleiner Kurs, geleitet von Miss Raryi, einer relativ jungen Lehrerin, die vor ihrer Ausbildung ebenfalls an dieser Schule gewesen war. Chloe fand sie ganz nett, dennoch schreckte sie ihr schrilles Aussehen ab, allen voran die raspelkurzen, feuerrot gefärbten Haare gepaart mit katzengleichen, fast stechenden Augen. Gepaart damit besaß Miss Raryi eine kreischend helle Stimme, dessen Klang Chloe im Unterricht mehrmals fast dazu verleitet hätte, sich die Ohren zuzuhalten. Heute jedoch sprach sie mit einer sonst ungekannten leisen Lautstärke, was Chloe angenehmes Abschweifen ermöglichte. Sie musste nicht wirklich gut aufpassen, da sie das Meiste, was Miss Raryi von ihrem doch recht theoretischen Wissen ohne praktische Anwendungen teilte, eh schon gewusst hatte, aber ihr zuliebe tat sie so, als würde sie dem Unterricht aufmerksam folgen.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, läutete die Glocke erneut und die Lehrerin entließ die Schüler in ihr Wochenende, nicht ohne ihnen aber eine umfangreiche Recherchearbeit zu geben, bei der Chloe innerlich aufstöhnte.
Sie hatte ein dumpfes Gefühl im Magen, wenn sie an das Wochenende dachte, denn sie wusste, dass sie dem Drang ihrer Neugier, die Blinden erneut zu beobachten, nicht mehr standhalten konnte. So sehr sie sich nicht damit beschäftigen wollte, interessierte es sie doch brennend, wie der andere Teil der Gesellschaft sein Leben verbrachte. Und spätestens für die Projektsitzung am Dienstag musste sie sich nochmals damit beschäftigen, damit sie nicht ganz mit leeren Händen dastand. Aber der Gedanke daran, dass sie wieder ins Innere von wildfremden Menschen blicken müssen würde, ja, glatt in die abgrundtiefe Schwärze der menschlichen Gedanken, erfüllte sie langsam immer mehr mit Panik.
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the watcher
Teen FictionWenn du jeden einzelnen Gedanken eines Menschen kennst, seine Innersten Gefühle und Ideen, könntest du dann anders, als ihn zu lieben? Als Chloe, Elli und Nele in einem Schulprojekt mithilfe von neuer Gedankenlese-Technologien die Blinden beobachten...