(8) Wahrheit oder Lüge

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Paul hebt demonstrierend eine Flasche Whiskey in die Höhe. Dann legt er sie auf den flauschigen Untergrund und dreht. Durch die vorstehenden Zotteln des Teppichs, rührt sie sich beinahe nicht. Doch Paul kommt nicht auf die Idee, die Flasche einfach auf den Parkettboden zu verschieben. Nein, er dreht einfach nochmals, nur das er diesmal zu viel Schwung nimmt und Picasso somit direkt ins Gesicht schlägt. "Sag mal, geht's noch?", empört sich dieser lautstark, während er sich wehleidig die linke Wange hält. Der andere Junge lacht ermuntert auf. Er hat Miriam an der Hüfte zu sich gezogen, sodass sie halb auf ihm sitzt und ich frage mich, ob die beiden zusammen sind. "Geschieht dir recht Pablo", sagt er amüsiert. Ich muss ihm recht geben. Dieser Pablo geht mir allmählich ziemlich auf den Sack. Miriams Verehrer jedoch scheint ganz nett zu sein.

Er hat hellbraune, beinahe blonde Haare, die ein wenig zu lang zu sein scheinen, sowie sie ihm verwirrt in die Stirn fallen. Immer mal wieder pustet er eine seiner Strähnen in die Luft, was aber nicht viel nützt, da sie ihm kurz darauf in die Stirn zurückfällt. Auch sein Lächeln wirkt zuvorkommend. Es ist breit und löst den Impuls aus, es ihm gleichzutun. Seine Augen leuchten im Gleichtakt. Sie sind Miriams ziemlich ähnlich: Blau und gross, liebenswert. Ich würde es ihnen beiden gönnen, einander gefunden zu haben. Obwohl ich mich an keinen der beiden erinnern kann, fühle ich mich gut in ihrer Gegenwart, was vor allem daran liegen könnte, da sie eine solche Freundlichkeit ausstrahlen.

"Halt doch einfach die Fresse Liam", meckert Picasso darauf los. Emil schüttelt frustriert seinen Kopf: "Vielleicht solltest du nächstes Mal einfach weniger trinken Pablo." Picasso will schon was erwidern, als Paul das Wort ergreift. Die Flasche ist stehengeblieben. "Ich!" Paul schnaubt ermuntert auf: "Ich kann mir wohl schlecht selber eine Frage stellen, oder nicht?" Erwartungsvoll sieht er in die Runde. Schliesslich ist es Liam, der sich meldet: "Nun gut Paul", er macht eine spannungsaufbauende Pause: "Was würdest du sagen ist deine grösste Schwäche."

"Das ist eine gute Frage", werfe ich ein. Emil nickt gedankenvertieft, so als wolle er meinen Worten stillschweigend zustimmen. Pablo wiederum schmunzelt schadenfreudig: "Raus mit deinen dunklen Machenschaften. Spann uns nicht auf die Folter alter." Paul pustet Luft durch die Zähne und wendet seinen Blick gen Zimmerdecke: "Da muss ich erst mal überlegen." Er senkt seinen Kopf Blickt uns einen nach dem anderen an, dann stielt sich ein Grinsen auf seine Lippen: "Ihr wisst doch: Ich bin nahezu makellos."

Ich lache verzückt auf: "Das würdest du dir wohl wünschen du alter Schlawiner." Ich weiss nicht, wieso ich solche Worte an Paul richte. Sonst spreche ich schliesslich auch nicht so vulgär. Es scheint fast so, als hätte ich zwar meine Erinnerungen an all diese Leute verloren, jedoch nicht meine Gefühle ihnen gegenüber. Ich verhalte mich nicht so wie die Marie nach dem Unfall. Irgendwie cooler, selbstsicherer, individueller. Ich muss zugeben, dass sie mir gefällt, Mar, Mienchen, wer auch immer ich gerade bin.

Durch Pauls lachen werde ich aus meinen Tagträumereien gerissen. "Naja. Vielleicht gibt es da doch einen klitzekleinen Fehler an dieser wunderbaren Person", gibt er dann noch immer schmunzelnd zu. "Und der da wäre?", will Miriam langsam genervt wissen. "Hmmm" Paul kratzt sich am Kinn, schaut wieder an die Decke hoch. "Mein grösster Fehler ist wohl meine Eiversucht." Er seufzt tief auf, wirkt plötzlich ernst. "Ich hab schon oft Leute verletzt, weil ich nicht mit ihrem Erfolg klargekommen bin."

Ich muss leer schlucken. Vielleicht, da ich Paul noch nie so ernst erlebt habe. Auch Picasso scheint Pauls bedrückte Stimmung aufzufallen. So emphatisch, wie dieser ist, kann er es natürlich nicht lassen, einen unpassenden Kommentar fallen zu lassen: "Ach Paulchen, unser drittes Mädchen im Bunde." Er tätschelt dem wütenden Paul in grosser Geste auf die Schulter. Dieser entzieht sich Pablos Griff und funkelt ihn erbost an: "Weil du nur so beschränkt tun kannst, Picasso, bist du gleich als Nächster dran." Picasso schüttelt Augenverdrehend seinen Kopf: "Na dann halt", er seufzt enthusiastisch: "Ich wähle Tat:"

Sobald Pablo die Worte ausgesprochen hat, beginnt Paul wieder über beide Ohren zu strahlen. "Ha", sagt er erfreut: "Ich habe da ein geschmacksintensives Wässerchen für dich." Er hält demonstrativ das Glas in die Höhe, welches der Barkeeper in seiner grässlichen Wut Emil verabreicht hat. "Trink das aus, komplett." Er streckt Pablo den Drink entgegen, hält aber kurz vor der Übergabe inne: "Ohne zu spucken, wenn ich bitten darf, sonst putzt du die Schweinerei selbst auf." Picasso lacht lediglich über Pauls Ansage: "So schlimm wird's schon nicht sein, dass ich spucken muss." Völlig in seinem Rausch, greift er nach dem Glas und kippt es grinsend in einem Zug hinunter. Nur einige Sekunden darauf wird er kreidebleich, steht entschieden auf und stürmt aus dem Zimmer.

Miriam bricht in schallendes Gelächter aus, Liam und Paul tun es ihr gleich. Emil lächelt wie auch ich verhalten. Wir haben schliesslich schon geahnt, wie das ganze ausgehen könnte und sind wohl nicht so schadenfreudig, wie Paul es ist. "So viel zu 'ich muss nicht spucken'", kommentiert Emil nüchtern. Er greift nach der Whiskyflasche zwischen uns, schraubt sie auf und genehmigt sich einen kleinen Schluck. Dann reicht er sie an mich weiter. Auch ich trinke nur wenig - andere hätten es wohl als Nippen deklariert - ehe ich den Alkohol Paul überlasse. Er nimmt gleich einige Züge, stellt die Flasche geräuschvoll ab und fährt sich mit der Hand über die benetzten Lippen. Ich bin wirklich froh um den Teppich, der den holzigen Boden zumindest einigermassen vor Pauls Kräften schützt.

Picasso betritt den Raum schnaubend, quetscht sich neben Paul und greift seinerseits nach dem Alkohol. Er blickt kritisch in die Runde: "Was denn?", fragt er geladen: "Irgendwie muss ich dieses Teufelszeug ja runterspülen." Er nimmt zügig einen grossen Schluck, dann sieht er Paul zornig an: "Bei dem Scheiss hilft noch nicht mal Wasser." Paul grinst vielsagend: "Hättest du dich nicht so aufgespielt und direkt das ganze Glas weggesoffen, wäre es dir bestimmt besser ergangen." "Stimmt", gibt Miriam zu ihrem besten. Ich nicke zustimmend. "Boah hey, ihr könnt mich alle mal." Picasso verschränkt vehement die Arme vor der Brust. Dann schnappt er sich die Flasche und dreht einmal kräftig: "Ich verspreche euch. ihr bekommt das alles zurück."

Die Flasche schwadert auf dem Teppichboden, dann kommt sie zum Stillstand. Die Spitze zeigt auf mich: "Und, was wählst du Mar?" Ich schüttle den Kopf, atme gleichzeitig aus. Als könnte ich so die plötzliche Anspannung loswerden. "Wahrheit?", frage ich eher, als das ich es sage. Picasso lacht gehässig, dann schaut er zur Decke, überlegend.

"Was ist das Schlimmste, das du je einem von uns angetan hast, ohne dass wir anderen davon wissen?", will er dann noch immer grinsend wissen. Mir bleibt das Herz stehen. Ich blicke hilfesuchend um mich, streife Miriam und lande schliesslich bei Emil. Er zuckt lediglich mit den Schultern. Wahrscheinlich weiss selbst Picasso mehr über meine Gräueltaten als ich selbst, obwohl ich wetten könnte ihm je etwas essentielles erzählt zu haben - zumindest nicht freiwillig.

Ich reibe mir mit den Händen über das Gesicht, versuche mich zwanghaft an irgendetwas zu erinnern. Doch je länger ich grüble, desto weniger scheine ich zu wissen. Kopfschmerzen schiessen mir in das Haupt, um mich herum beginnt alles zu verschwimmen. "Alles Okay bei dir Marie?", höre ich einen der Schemen besorgt sagen. Ich glaube es ist Emil, mit viel Konzentration kann ich längere, braune Haare erahnen. Dann zerfliesst alles zu einer einzigen eintönigen Masse zusammen und die Welt scheint vergessen.

Amnesie  - atme, lebe, verliebe dich, und das alles zum 2ten Mal.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt