Paul lotst uns über etliche Treppen und durch viel zu viele Gänge. Irgendwann habe ich nach Emils Hand gegriffen, den ich nun hinter mir herziehe, während ich meinerseits von Paul mitgezogen werde. Hätten wir nicht nach dieser Massnahme gegriffen, hätten wir uns womöglich schon längst aus den Augen verloren. Paul wird immer mal wieder von Leuten angesprochen - wahrscheinlich gratulieren sie ihm zum Geburtstag, ansonsten scheint er es ziemlich eilig zu haben. Obwohl wir uns alle an den Händen halten, fällt es mir schwer seinen langen Schritten zu folgen. Als wir am Ziel ankommen, bin ich so ausser Atem, dass ich mich auf den Knien aufstützen muss.
Emil betrachtet mich besorgt, Paul hingegen scheint meine Verfassung überhaupt nicht mitbekommen zu haben. Er wendet sich der Tür vor sich zu und drückt die Klinke hinunter. Mit einer einladenden Geste stösst er sie mit dem Fuss auf und deutet auf den Raum dahinter: "Willkommen in meinem Reich", lächelt er selbstverliebt, während er zu Emil und mir zurückblickt. Dieser hat sich mittlerweile zu mir hinuntergebeugt und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr, was nicht gerade dazu führt, dass mein Atem sich beruhigt.
Erst jetzt scheint Paul aufzufallen, dass ich total ausser Puste bin. Er lächelt mich verhalten an: "Tschuldigung Mienchen. Ich vergesse immer wieder von neuem, dass deine kurzen Beine so absolut lahm sind."
"Na vielen Dank auch", schnaube ich entrüstet auf, wobei ich mir nicht sicher bin, ob die beiden mich auch wirklich verstehen können, so sehr wie ich bei meinen Worten keuche.
"Du hast ja deine Stimme wieder gefunden", stellt Paul erfreut fest: "So mag ich dich schon viel besser. Ich habe schon befürchtet der komische Zustand von Vorhin hat sich über die sieben Wochen hinweg in deinem Kopf festgesetzt und du bist zu einer gnadenlosen Perfektionistin mutiert." Ich schüttle lachend mit dem Kopf und muss kurz darauf auch schon wieder nach Luft japsen. Keine gute Idee. Gar keine Gute Idee.
Ich versuche zwanghaft an nichts mehr zu denken und mich stattdessen auf das Heben und Senken meiner Brust zu konzentrieren. Ich stelle erfreut fest, dass das Konzept funktioniert und mein Atem sich tatsächlich langsam beruhigt.
Trotz meines Ausfalls fühle ich mich wohl. Paul kann zwar echt nervtötend sein, andererseits bringt er mich zum lachen. Ich kann mir vorstellen, dass er bei vielen Leuten gut ankommt, was wahrscheinlich vor Allem seiner gnadenlosen Ehrlichkeit zuzuschreiben ist. Er ist offen für alles und das mag ich. Emil dagegen scheint reservierter zu sein. Aber trotzdem so unglaublich herzlich, dass es mir schwerfällt in seiner Anwesenheit nicht zu lächeln. Von seiner Anziehungskraft, die er bewusst oder auch unbewusst auf mich ausübt, will ich gar nicht erst zu sprechen anfangen. Sonst fange ich voraussichtlich noch zu sabbern an.
Paul hält seine Zimmertür noch immer geöffnet und schaut ungeduldig in unsere Richtung. Vor kurzem hat er damit begonnen unregelmässig mit dem Fuss auf und ab zu wippen. Auch Emil scheint Pauls Unruhe aufzufallen. Er reicht mir schmunzelnd seine Hand: "Komm. Begeben wir uns ins Reich des Löwen", raunt er mir unverhohlen grinsend zu, ehe er mich auf die Beine zieht und wir Paul gemeinsam in sein Terretorium folgen. Ich sehe mich interessiert um.
Drei der vier Wände sind in einem dezenten, gräulichen weiss gestrichen, während die letzte in einem satten Sonnenblumen-Gelb erstrahlt. Vor der klatschgelben Mauer steht ein prächtiges, türkises Ecksofa, dessen Gegenstück gleich daneben in einem gemütlichen Ohrensessel aufzufinden ist. Wenn man mal vom Sofa und der Wand absieht, ist das Zimmer relativ gewöhnlich eingerichtet. Gegenüber des Sofas befindet sich, hinter einem Bücherregal versteckt, ein grosses Bett. Ein schwarzer, ziemlich flauschiger Teppich ziert den alten Holzboden, die Wände wurden mit etlichen Bildern verziert - in einigen davon erkenne ich Emil wider und auch mich.
Meine Haare sind jetzt länger. Damals trug ich sie noch schulterlang und - wie Emil bereits erwähnt hat - pastellrosarot. Ich muss sagen, mein alter Look gefällt mir. Ich überlege mir schon, ob ich meine Haare vielleicht erneut färben sollte, als Paul mir auf die Schulter tippt: "Das waren damals noch Zeiten, was?" als ich nichts erwidere, stupst er mich mit seinem Arm an: "Aber jetzt mal ehrlich Mienchen, du solltest dringend was an deinen Haaren ändern, so langweilig sahen die noch nie aus." Ich lache ermuntert auf. "Du wirst es nicht glauben, das habe ich mir eben auch gedacht." Paul schmunzelt, wobei sein linker Mundwinkel sich weiter nach oben zieht, als sein Rechter. Dann packt er meinen Arm und zieht mich ohne Vorwarnung von der Wand weg. Ich gerate kurz ins Stolpern, fange mich aber schnell wieder. Ein spitzer Schrei verlässt meine Lippen. Paul lacht lediglich auf - ohne sich zu entschuldigen.
Erst als er sich setzt und mich an der Hüfte zu sich nach unten zieht, kann ich das Zimmer wieder genauer betrachten. Ich pralle durch den kurzen Fall direkt auf meinen Arschknochen auf und stöhne kurz. Das wird ein paar schöne Veilchen hinterlassen. Paul scheint davon nichts mitzukriegen - nur Emil schaut mich besorgt an. Er sitzt mir rechts gegenüber. Ansonsten sitzen da noch Paul, ich und drei andere in der Runde. Ich vergrabe meine Hände in dem flauschigen Material des schwarzen Teppichs. Kein Polyester, wahrscheinlich ziemlich teuer. Aber das Geld scheint in diesem Haus kein Problem darzustellen.
"Hey Mar". begrüsst mich das Mädchen, welches direkt neben Emil sitzt. Sie wirkt geschockt. Ich nicke ihr unbeholfen zu und hoffe insgeheim, dass wir nicht allzu eng befreundet waren, ehe ich meine Amnesie erlitt. Als sie jedoch aufsteht und sich zu mir runterbeugt, um mich zu umarmen, weiss ich, dass alle Hoffnung umsonst ist. Sie riecht nach Jasmin und Honig, irgendwie vertraut. Andererseits kann ich mich nicht daran erinnern, sie je schon einmal gesehen zu haben. Trotzdem fühlt es sich gut an, in ihren Armen zu liegen, gehalten zu werden. Auch ich lege meine Arme um sie. Wir drücken uns lange. Es kommt mir so vor als hätte ich etwas monumental Wichtiges wiedergefunden - ohne es jemals verloren zu haben. Als das Mädchen sich von mir löst, hat sie Tränen in den Augen. "Du weisst gar nicht, welche Sorgen ich mir um dich gemacht habe." Ihre Lippe beginnt zu zittern: " Ich dachte du seist tot!" Den letzten Satz schreit sie. Sie wirkt aber nicht wütend, nur verletzt, ängstlich und absolut überfordert. Der Junge hinter ihr legt ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Jetzt beruhig dich doch, Miriam." Er zieht verschiedengrosse Kreise auf ihrem Rücken, dann fügt er leiser hinzu: "Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben. Und ausserdem ist sie ja jetzt wieder da." Miriam schnieft herzallerliebst, wobei ich sie am liebsten direkt wider in meine Arme geschlossen hätte. Stattdessen sage ich nur: "Es tut mir so leid Miriam, es tut mir so leid."
Der Junge, dem ich bis jetzt am wenigsten Beachtung entgegengebracht habe, prustet laut auf. Ich sehe ihn erbost an. Das hier ist keinesfalls ein Grund in Lachen auszubrechen. Emil sieht das wohl genau so. Er stupst den Jungen an und sagt die Worte, die ich bis eben noch gedacht habe. Auch sein Blick drückt alles andere als Gelassenheit aus. Der Junge seinerseits scheint nicht einzusehen, dass seine Reaktion alles andere als Angebracht gewesen ist. Als er unsere Blicke sieht, hebt er unschuldig die Hände in die Luft: "Also bitte. Wenn Marie Miriam 'Miriam' nennt, kann doch irgendetwas nicht stimmen. Oder habt ihr das schon mal gehört?"
"Lustig ist es trotzdem nicht", erwidert Miriam versöhnlicher: "manchmal kannst du echt so unsensibel sein Picasso." Sie schüttelt ungläubig den Kopf, dann wendet sie sich mir zu. "Was dich angeht: ich verzeihe dir. Ich hatte einfach solche Angst, dir könnte etwas zugestossen sein." Sie schaut mir fest in die Augen: "Ich bin jetzt noch stinksauer. Aber eine Welt ohne Mir und Mar wäre einfach nicht komplett. Oder?" Ihr Blick sagt mir alles, was sie nicht in Worte ausdrücken kann. Ich sehe so viel Schmerz und Liebe. Ich umarme sie stürmisch. Wie auch bei Emil fühle ich in Miriams Gegenwart eine Geborgenheit, eine Sicherheit. Ich sehe in ihr eine Freundin, obwohl ich sie durch meine Amnesie gar nicht richtig kenne. "Danke", sage ich erleichtert, dann: "Mir und Mar." Ich halte ihr die Hand entgegen. Miriam schlägt ein: "Mir und Mar."
Eine Weile sehen wir uns nur glücklich in die Augen, dann werden wir keck unterbrochen: "Ist ja echt schön, wenn Marie so nett widerempfangen wird. Aber ich bin es, der heute Geburtstag und deshalb sollten wir jetzt endlich mal damit beginnen Wahrheit oder Tat zu spielen?"
DU LIEST GERADE
Amnesie - atme, lebe, verliebe dich, und das alles zum 2ten Mal.
Mystery / ThrillerIch sei psychisch labil, sagen sie. Sie sagen, wenn ich mich genug anstrenge, werde ich mich an alles erinnern. An die letzten zwei Jahre meines Lebens... Und an den Jungen der mich anscheinend zu kennen glaubt... Atme, Lebe, verliebe dich. Und das...