Als ich wieder zu mir komme, ist da erstmal nur Kälte. Ich spüre den Boden in meinem Rücken, meine Hände liegen schlaff neben meinem Körper. Etwas streift meine Wange - oder vielmehr jemand. Als ich nämlich erschrocken meine Augen öffne, sehe ich in Emils Gesicht, das direkt über meinem schwebt. Seine Augenbrauen haben sich bekümmert zusammengeschoben, wobei eine kleine Falte über seiner Nase entstanden ist. Er sieht süss aus, wie er da so sorgenvoll über mir kniet. Ich versuche ein leichtes Lächeln, merke aber schnell, dass mein Körper meiner Aufforderung nicht nachgehen möchte. Ich bin so müde.
"Wahrscheinlich hat sie sich nur überanstrengt", murmelt Miriam leise, was wahrscheinlich auch gut ist, da mein Kopf gerade ein Eigenleben entwickelt. Ich greife stöhnend nach meiner Stirn - diesmal gehorcht mein Körper mir. Als Emil meine Bewegung registriert seufzt er erleichtert auf und greift nach meiner Hand, wo er mit dem Daumen sachte Kreise zieht. Jetzt gelingt mir mein Lächeln. Emil lächelt zurück, doch nur so lange, bis ich mich aufsetzen will. "Lass das Marie. Du bist vorhin gerade zusammengebrochen, da kannst du nicht einfach aufstehen und tun als wäre nichts", sagt er missbilligend. Sein Griff um meine Hand wird fester. Trotzdem setze ich mich auf. Kurz wird mir schwarz vor Augen und ein Gefühl aufkommenden Schwindels überrollt mich. Emil hält mich an der Schulter fest, als ich, durch die verlorene Orientierung, beinahe umkippe. "Was hab ich dir gesagt?"
Ich verdrehe die Augen, lasse es aber schnell wieder bleiben, da sich auch bald im Rest meines Kopfes alles dreht. "Geht schon", sage ich stattdessen und erschrecke am kratzigen Ton meiner Stimme. Ich habe mich wohl wirklich ziemlich überanstrengt - oder zu viel Alkohol getrunken. Ich mag mich auf jeden Fall nicht mehr daran erinnern überhaupt einen Tropfen nach meinem Unfall konsumiert zu haben. Als das Schwindelgefühl langsam schwindet, blicke ich mich vorsichtig um.
Ich liege inmitten von blauen Kissen, in der Sitzecke des Balkons, wo Emil, Paul und ich vor kurzem noch gequatscht haben. Neben mir kniet Emil. Sein Gesicht wird durch die Girlanden mit warmen Farbtönen beleuchtet. Miriam sitzt, an das Balkongeländer gelehnt, auf meiner anderen Seite. Sie knetet unruhig die Hände in ihrem Schoss, während sie nervös auf ihrer Unterlippe herumbeisst. Alles in allem sieht sie ziemlich besorgt aus, wie Emil auch. Weisse Wölkchen schweben vor ihren Mündern, ihr Atem kondensiert in der kühlen Nachtluft.
"Jetzt mal ganz ehrlich", kommt Miriam schliesslich wieder zu Wort, nachdem sie so lange geschwiegen hat. Ihre Stimme klingt belegt, eine Spur Verzweiflung ist ebenfalls rauszuhören: "Was ist in den letzten Wochen passiert, dass du bei einer simplen Frage so durchdrehst?"
Ich schüttle den Kopf, als könnte ich so Miriams Frage ebenfalls abschütteln. Emil, der meine Schulterblätter schon eine weile wieder losgelassen hat, greift nun nach meinen Händen, indem er sich vor mich kniet. "Hör mal Marie. Ich weiss dass dir das alles Angst macht und du nicht mit uns darüber sprechen willst, wo du gewesen bist und was du gemacht hast. Aber ich bitte dich inständig, falls deine eigene Gesundheit dadurch gefährdet wird, wenn du schweigst - was die Aktion vorher ziemlich deutlich gezeigt hat", er schluckt kurz. Ich sehe seinen Kehlkopf sich bewegen: "dann hilf uns bitte, dass wir dir helfen können."
Tränen treten mir in die Augen. Es tut weh zu sehen, dass sich eine Person so liebevoll um einen kümmert, einem so gerne hat, wenn man selbst sich an nichts davon erinnern kann. Nur das Gefühl bleibt - das Gefühl jemanden unwissentlich verletzt zu haben. "Schon gut." Emil rückt näher, legt seinen Arm um meinen nun aufrechtsitzenden Körper und hält mich einfach nur fest. Ich schniefe laut, als ich meine Nase hochziehe, die Tränen tropfen unaufhörlich auf Emils T-Shirt.
Eine weitere Hand legt sich auf meinen Rücken, hinter mir schluchzt es - Miriam. Auch sie zieht die Nase hoch und sagt mit brüchiger Stimme: "Gott Mar, es tut so unfassbar weh dich so zu sehen." Ich fühle mich durch ihre Worte nur noch elendiger. "Okay", sage ich niedergeschlagen: "Ich erzähl es euch. Ihr müsst mir nur versprechen, mich danach nicht anders zu behandeln wie sonst auch." Ich sehe hilfesuchend in die Gesichter meiner besorgen Freunde. Miriam nickt hastig, wohl einfach froh über den Gedanken, mir mental helfen zu können, wenn sie das Problem erst einmal verinnerlicht haben würde. Wenn sie sich da mal nicht zu früh freut. Emil ist dagegen zaghafter. Auch er gibt mir ein Zeichen fortzufahren, indem er sich mir wider gegenübersetzt und meine Hände beide in die seinen legt. Allerdings wirkt er alles andere als erleichtert. Er macht vielmehr einen alarmierten Eindruck, wie er die Schultern verkrampft und mit seinen Fingern, wie um sich abzulenken, an meinen Händen herummassiert. "Okay", meint schliesslich auch er: "Ich verspreche es dir."
Ich seufze erleichtert auf. Erst als mein Atem sich in einer weissen Wolke vor meinem Gesicht manifestiert, wird mir klar, dass ich die Luft angehalten habe. Obwohl ich jetzt die Zustimmung derer Leute habe, von denen es mir wichtig ist, dass sie in mir die Marie sehen, die sie vor sieben Wochen verlassen hat, warte ich noch eine ganze Weile, bevor ich zu erzählen anfange. Die Angst bleibt, abgeschoben zu werden.
"Als ich vor ungefähr sieben Wochen verschwunden bin, ist - wie ihr es befürchtet habt - tatsächlich etwas schlimmes passiert." Ich seufze. Miriams Aufschluchzen bringt mich dazu eine Hand aus Emils Schoss zu ziehen, um damit die ihre zu halten. Sie weint weiterhin stumm, während sie einen weiteren Laut unterdrückt, indem sie auf ihre zitternde Unterlippe beisst. "Als ich nach drei Tagen im Krankenhaus aufgewacht bin, haben mir die Ärzte erzählt, wie kritisch es um mich stand. Ich habe durch eine Verletzung an Kopf und Oberschenkel ziemlich viel Blut verloren und hätte mich niemand gefunden, wäre ich wohl noch an der Unfallstelle verstorben."
Miriam zieht keuchend Luft in ihre Lunge. Auch Emil atmet zitternd ein. "Ich war erst einmal geschockt", fahre ich leise fort: "nicht, weil ich dachte, der Unfall hätte keine lebensgefährlichen Konsequenzen mit sich gebracht. Mein Problem war, dass ich gar nicht von einem Unfall wusste. All diese Dinge, die der Arzt mir sagte machten zwar Sinn - mein Kopf wurde von heftigen Kopfweh Attacken heimgesucht und auch mein Bein schmerzte ungemein - aber in meinem Kopf herrschte zu diesem Thema nur gähnende Leere. Und immer, wenn ich versuche mich daran zu erinnern, was in der Zeit geschehen ist, an die ich keine Erinnerungen habe, dann bekomme ich gravierende Kopfschmerzen und oder Schwindelanfälle." Ich reibe mir müde über die Augen. Sobald ich die Hand senke nimmt Emil sie wieder in seine. Er umklammert sie unangenehm fest. Ich lasse ihn gewähren. Ich glaube er braucht das jetzt. "So einen Anfall habt ihr ja vorhin gerade miterlebt", kommentiere ich resigniert: "Im Grunde genommen kann man sich diese Ohnmachtsanfälle so erklären, dass mein Körper sich ausschaltet, wenn ich den Fakten zu meinem Unfall nachgehen möchte. So muss ich mich nicht mit diesem Trauma auseinandersetzen, das mich wahrscheinlich ziemlich mitnehmen und einschränken würde. Also eigentlich ist das alles nur so eine Art Schutzkomplex."
Mir sieht mich aus grossen, feuchten Augen an. Ihr Mund ist leicht geöffnet doch sie bringt beobachtender Weise kein Wort heraus. Ich drücke sanft ihre Hand, die noch immer in meiner liegt. Dann blicke ich zu Emil und was ich dort sichte gefällt mir so gar nicht. Auch er scheint primär geschockt zu sein. Er starrt regungslos auf unsere verflochtenen Hände hinunter. In seinen Augen kann ich eine Frage lesen. Ich sehe wie er mit sich hadert, im Zwiespalt gefangen, eine düstere Vorahnung im Nacken.
"Aber Marie", spricht er meine Befürchtung laut aus: "Picassos Frage vorhin, die bezog sich doch überhaupt nicht auf den Unfall."
Er sieht zu mir auf. Ich sehe in seine traurigen, verzweifelten Augen und bin nur im Stande zu nicken: "Normalerweise haben Betroffene meist Erinnerungslücken vom Unfall selbst: Ein paar Stunden, vielleicht Tage. Mir fehlen beinah zwei ganze Jahre."
DU LIEST GERADE
Amnesie - atme, lebe, verliebe dich, und das alles zum 2ten Mal.
Mistero / ThrillerIch sei psychisch labil, sagen sie. Sie sagen, wenn ich mich genug anstrenge, werde ich mich an alles erinnern. An die letzten zwei Jahre meines Lebens... Und an den Jungen der mich anscheinend zu kennen glaubt... Atme, Lebe, verliebe dich. Und das...