Prolog - Ersatz

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Mia und Jenna waren das perfekte Team. Sie hatten sich über Jahre aufeinander eingestimmt und jeder hätte für den anderen sein Leben gegeben. Ihre Beziehung war etwas ganz besonderes.
Jenna war Mias Blindenführhund. Ein Golden Retriever und darüber hinaus eine echte Freundin. Zusammen waren die beiden jeder Widrigkeit gewachsen. Ein Duo, das zusammen die Welt erobern könnte, so dachte Mia, doch das Schicksal wollte es anders.
Seit zwei Wochen kam Jenna nicht mehr in Mias Bett gesprungen, um sie zu wecken. Sie kam nie wieder um sie zu wecken. Sie ist gestorben. Friedlich, aber zu früh. Dieses Ereignis warf Mia aus der Bahn. Sie hatte nie wirklich mit ihrer Blindheit zu kämpfen, auch wenn ihre Umwelt es ihr manchmal schwer machte, aber dieser Verlust stach in ihr Herz wie ein Schwert. Ein feiger, hinterhältiger Verrat aus dem Nichts. Jenna wurde ihr entrissen.
Tage lang weinte Mia. Sie war einfach nicht bereit dazu.
Angeblich brauchte es sieben Jahre bis ein guter Freund zur Familie gehört. Ganz so viel Zeit hatten die beiden nicht gemeinsam verbringen können, dennoch war Jenna mehr als ein Familienmitglied gewesen. Im Oktober hätten sie Jennas achten Geburtstag gefeiert. Hätten sie. Fast sechs Jahre hätten sie dann zusammen verbracht, was schon viel war, zumindest in Relation zu den nur elf Jahren davor.
Jenna war nicht alt und top fit. Sie schien top fit. Ein Herzinfarkt ließ Mias Assistenzhund eines Nachts nicht mehr aufwachen. Es wäre ganz schnell gegangen, sagte der Arzt. An was sie wohl dachte kurz bevor sie aus der Welt trat? An Mia? Das Mädchen wünschte sich, sie hätte für sie da sein können, so wie Jenna immer für sie da gewesen war.
Nun würde sie einen neuen Begleiter haben. Aber er würde immer nur einer sein. Ein zweiter. Ein Ersatz.          
                                            
Mia kniete auf dem kalten Fliesenboden. Der Atem des neuen Hundes war schnell, aber regelmäßig. Nicht beruhigend, wie der Jennas. Eher beängstigend. Zu laut. Zu heftig.
„Er ist auch ein Golden Retriever, er sieht genauso aus wie Jenna, das Fell hat exakt dieselbe Farbe.“
„Danke Mama, jetzt sehe ich es auch.“
„Fühl doch mal, die weichen Haare.“ Ihre Eltern führten ihn vor wie ein Zirkuspony. Wie etwas, auf das man stolz sein - sich etwas drauf einbilden konnte.
„Er riecht anders als Jenna, irgendwie so… nach Hund. Wie heißt er überhaupt?“
„Charly. Mit Y.“ Die Stimme Mias Mutter könnte ebenso gut aus einem Werbefilm stammen.
„Charly. Unisex. Klingt so amerikanisch…“
„Du wolltest doch immer nach Alaska.“
„Jenna und ich wollten nach Skandinavien.“ Jenna. Mit weichem J. Ihr Name passte perfekt. Lieblich, zart und unkompliziert…
“Du klingst nicht wirklich begeistert.” stellte ihr Vater fest. Wahnsinn. Was dachte er sich denn? Dass sobald ein neuer Hund da ist, alles wieder gut würde? Er könnte nie so gut sein wie Jenna. Niemals. Sie war perfekt.
“Er ist natürlich erstmal auf Probezeit bei uns.” erklärte ihre Mutter. Ja, das würde bestimmt etwas daran ändern.

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