Kapitel 7 - Stroboskop

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Eine distanzierte Mädchenstimme sprach zu Mia. Recht laut, ziemlich deutlich. Mia war blind, nicht schwerhörig. Mit ihrer Artikulation hätte das Mädchen ebenso gut in einem Kasperletheater mitspielen können. “Ich bin Adrianne.”
“Mia.” Als die Stimme sich zu Henni wand, war sie leiser, zart und voller Liebe. Mia entschied sich schnell ihre Besitzerin nicht zu mögen. Nicht nur, dass sie ihr das Gefühl gab als dachte sie Mia einer besonderen Behandlung unterziehen zu müssen; sie war auch das Mädchen mit dem Henni zusammen war. Ihrer Henni. Was für ein scheiß eifersüchtiger Gedanke. “Bereit ihr süßen?” Hennis Stimme war wie immer ein lieblicher Klang. Sie nahm beide an die Hände, wenn auch Adriane wegen ihrer Zuneigung wegen und Mia wahrscheinlich nur aus einem Pflichtbewusstsein heraus.

Die drei Mädchen gingen durch die Stadt. Das Ziel lag etwas außerhalb, eine leerstehende Lagerhalle in einem Industriegebiet. Auch wenn Mia Hennis warme Hände spürte, kam es ihr unvertraut vor. Noch immer nagte Eifersucht an ihr. Eifersucht auf das andere Mädchen neben Henni. Keine der beiden sagte etwas. Mia war zu schüchtern, Adriane hatte wahrscheinlich kein Interesse und Hendrikje sah wahrscheinlich auch, dass es keinen großen gemeinsamen Nenner zwischen den beiden Mädchen gab. So monologisierte sie vor sich hin, was sie denn alles machen könnte und würde, wenn sie nur endlich eine Popcornmaschine hätte.

Langsam war dumpfe Partymusik zu hören. Die Baseline wummerte durch die Nacht und ließ im Umkreis von einigen Hundert Metern jeden wissen, dass eine Party veranstaltet wurde. Henni hatte etwas in die Richtung angedeutet, doch es klang in ihrer Formulierung eher wie eine kleine Fete, eine nette Gelegenheit neue Freunde zu finden. Der Lautstärke nach zu urteilen waren die Partygäste jedoch nicht mehr zählbar. Ein unwohles Gefühl machte sich in Mia breit.

Aus einer mit Graffiti besprühten Lagerhalle drang hektisches Lichtflackern. Selbst hier draußen konnte man die Stimmung fühlen. Sie war bombastisch. Fast schon zog Henni ihre beiden Begleiterinnen auf das schallende Gebäude zu. “Henni!” Der Besitzer der tiefen Stimme war legendär. Juli kam mit zwei Bierflaschen auf die Gruppe zu. Der Punk war gepierct, hatte lange blonde Dreadlocks und in seinen Ohrläppchen prangten zentimetergroße Tunnel. Henni begrüßte ihn mit einer Umarmung. “Was geht, Schwester?” Er musterte die beiden etwas unpassend gekleideten Damen. “Wen hast denn du dabei?” Mit seiner tätowieren Hand deutete er auf ihre beiden Begleiterinnen und reichte Henni eine Flasche. “Meine Freundin und eine Freundin. Adriane und Mia. Das ist Juli.” Der Punk streckte ihnen die Faust entgegen. Er war der Inbegriff dessen, was seine politischen Gegner als links-grün-versiffte Zecke bezeichnet hätten. Mia reagierte nicht. Hendrikje erklärte ihrem Freund kurz den Umstand. Adriane wusste offenbar auch nicht wie sie mit dieser Art von Begrüßung umgehen sollte. Sie war nicht spießig, hatte aber nichts mit diesem Jungen gemein. Sie würden in diesem Leben wohl keine Freunde werden, die Unterschiede waren zu groß. Langsam drückte sie ihre Faust gegen die des Jungen, der nur auf die Erlösung wartete. Eine Brofist war mit jeder Sekunde, die sie nicht erwidert wurde unangenehmer. “Kommt rein.”
Juli führte die drei Mädchen in das Stroboskop. Disconebel machte es unmöglich weiter als Zehn Meter zu gucken. Das Licht war grell, die Musik laut. Techno. Es roch nach Schweiß und Gras. Die Tanzfläche war schwül und stickig.

Vielleicht lag es daran, dass Mia noch nichts getrunken hatte, vielleicht an ihrer Anspannung, dass sie stocksteif da stand während um sie herum wild getanzt wurde.
Hendrikjes Hand löste sich plötzlich aus ihrer. „Komm, das ist doch unser Lied“, hörte sie Adriane gekünstelt überrascht sagen. Die Vorstellung wie sich Hennis eben noch so schützende Arme nun um die Taille der anderen legten fraß sich zu sehr in ihr Inneres, als das Mia darüber nachdenken konnte, dass sie sich nun alleine auf einer Tanzfläche, in einem unbekannten Raum befand. Ohne Langstock, ohne Charly, völlig orientierungslos. Ihre Wahrnehmung arbeite verzögert. Es war die totale Reizüberflutung: Die Musik war auch ohne das verwirrende Stimmengewirr zu laut, der Bass zu hart. Der Sound kam von allen Seiten und machte Orientierung unmöglich. Der Ausgang konnte so gut rechts wie links vor oder hinter ihr sein. Sie war verloren. Es roch nach Alkohol und dem penetranten Geruch der Nebelmaschine. Die Luft kam der eines Hallenbades nahe, trotzdem war Mia schrecklich kalt. Es fühlte sich an, als wäre sie aus einem Tiefschlaf erwacht und in kaltes Wasser geschmissen worden, obwohl sie genau wusste, dass sie sich schon seit einigen Minuten nicht von der Stelle gerührt hatte. Wie viele Lieder waren seitdem gespielt worden? Wie viele Blicke haben sie seitdem getroffen?
Eine kräftige Person rempelte sie an. Mia konnte sich abfangen, aber mental wurde sie zurück in die Innenstadt ihrer alten Heimat geschleudert. Alles war wieder da. Der Lärm. Bewegung. Hektik. Panik. Es war eine Demonstration. Mia wusste nicht von wem, oder um was es ging, es war ihr auch egal. Sie wollte nur Jenna wieder finden. Orientierungslos stand sie in einer Menschenmenge, die sie verständnislos von Jenna abschnitt. Minuten. Stunden. Jahre.

“Hey” Mia hörte ein Schnipsen unmittelbar vor ihrem Gesicht. “Hey Schwester, alles gut?” Mia wandte sich um, die Stimme schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Ein Arm ergriff sie und führte sie aus der Menschenmenge. Langsam wurden ihre Gedanken klarer und sie befand sich wieder auf der Fläche vor einer Lagerhalle in einem Industriegebiet ineiner ganz anderen Stadt. “Hast du was genommen?” allmählich konnte Mia die Stimme identifizieren. Sie gehörte Juli, dem Jungen der Henni und sie begrüßt hatte.
“Ich nehme keine Drogen!” verteidigte sie sich, auch wenn sie das Gefühl beschlich, sich hier eher für das Gegenteil rechtfertigen zu müssen. Hier waren alle drauf. “Du standest lost auf der Tanzfläche rum. Was ist los?”
“Ich hatte kurz einen Aussetzer. So ein altes Ding…”
“Bist nicht gerade 'ne Partymaus, was?”
“Ne. Nicht so wirklich. Das ist eigentlich gar nicht meine Welt.” Der Junge schien verständnisvoll. Er führte sie auf eine kleine Gallerie außerhalb der Halle, eine Verladerampe oder sowas.
“Wie kommst du dann hier her?”
“Henni hat mich her geschleppt. Ich dachte eigentlich, dass das hier nur ein munteres Beisammensein ist.”
“Ist es für uns auch.” Juli lachte.
“Das hier ist auf deinem Mist gewachsen?”
“Ist ein Selbstläufer geworden, aber ursprünglich, ja. Ist von meinem Alten, die Budze.”
“Und was hält er davon?”
“Nicht so viel.” Er lachte und die Untertreibung war kaum zu überhören. “Ich sage immer, man kann nichts dafür, reich geboren zu sein, aber man ist selbst Schuld, wenn man es bleibt. Wir sind perspektivlose Jugendliche. Destruktive Herumtreiber. Anarchistische Wirrköpfe. Such dir was aus.” Die Worte waren Mia wohl bekannt. Ihre Eltern verwendeten sie. So, wie dieser Abschaum, sollte Mia nie werden.
“Klingt spannend, wie du das sagst.”

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