Kapitel 4 - Behinderung

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Aus Karins Beunruhigung wurden allmählich Sorgen. Die Abmachung war klar, Mia sollte immer erreichbar sein. Wenn sie bei Freunden war, kam es schonmal vor, dass sie es überhörte, aber hier kannte sie doch niemanden. Karin wählte erneut. Keine Annahme. Was, wenn Mia etwas passiert war? Nicht auszudenken, was mit einem blinden Mädchen in einer ganz und gar unbekannten Stadt passieren konnte. Und wenn sie ihr Handy verloren hatte? Je länger sie darüber nachdachte, desto schlimmer wurden ihre Vorstellungen.
Ihr Mann saß noch immer am Esstisch und fand sich damit ab wieder einen Abend mehr alleine zu essen. "Sven. Mia geht nicht an ihr Telefon."

Mia wollte, dass dieser Moment niemals endete. Sie könnte für den Rest ihres Lebens in Hendrikjes Armen liegen und ihrem Atem und Herzschlag lauschen. Hier war sie aufgehoben. Geborgen. Die meisten Menschen fanden es unangenehm zu schweigen. Sie konnten keine Stille zulassen. Immer mussten sie diese schönen Momente mit belanglosem Smalltalk kaputt machen. Hendrikje nicht. Sie wusste das gemeinsame Schweigen als gegenseitigen Ausdruck von Zuneigung und Vertrauen zu schätzen, wie Mia selbst. Ein Türklacken riss Mia aus ihrer Träumerei. Sie schreckte hoch. Jeder Muskel in ihr schien sich anzuspannen. Hendrikje blieb unbeeindruckt. Jedenfalls bewegte sie sich nicht. Dieses Geräusch gehörte offenbar zu denjenigen, die sie als harmlos einstufte. Dem Klacken folgte ein Schlüsselrasseln und dann einige Schritte. Die Frage war, von wem? Die Schritte klangen männlich. Dann wurde ihre Tür aufgerissen. Mia hörte das Umlegen eines Lichtschalters. "Ach nee." sagte eine belustigte Stimme. "Wen hast du denn diesmal abgeschleppt?" Augenblicklich wurde Mia klar, wie diese Situation auf Außenstehende wirken musste. Sie lag angekuschelt mit einer Gleichgeschlechtlichen auf einem Bett, die sie zärtlich liebkoste. Mia fühlte sich auf einen Schlag sehr unwohl. Wer war die männliche Stimme und warum tat Hendrikje nichts um das richtig zu stellen? Oder... war es etwa das, wonach es aussehen musste?

Mia rutschte auf etwas Abstand zu Hendrikje. Tillian musste sie etwas verschreckt haben. Sei froh, dass du ihn nicht siehst, dachte Henni. "Du wirst wohl nie eine aufreißen." konterte sie und richtete sich auch allmählich auf. "Klopf gefälligst an, wenn du mich das nächste Mal zu stören ersuchst." Sie selbst klopfte zwar nie an, wenn sie was von ihm wollte, aber fairerweise musste, man aber auch gestehen, dass die Gefahr ihn bei etwas zu stören, das lieber ungestört bleiben sollte, ziemlich gering war. Ihr Mitbewohner verschwand wieder. Als Hennis Blick zurück zu Mia wanderte, bekam sie ein etwas schlechtes Gewissen, sie in diese Lage gebracht zu haben. "Sorry. Das war Tillian, mein Mitbewohner. Ist eigentlich zahm, kriegt aber manchmal Ausbrüche."
"Ausbrüche?"
"Von Gefühlen. Manchmal hockt er Tage lang in seiner Booth und schreibt und singt sich die Seele aus dem Leib. Bisschen schnulzig, aber ok. Ich glaube da stecken Mädchen dahinter. - Oder Jungs. Würde er nie zugeben."
"Er macht Musik, ja?"
"Ja. Wenn du lieb fragst, zeigt er dir vielleicht mal was."
"Hendrikje." Mia zog scharf die Luft ein. "Wie spät ist es?"
„Kurz vor zwölf, wieso?"
„Shit!" Mia rappelte sich rasch, aber dennoch vorsichtig auf. „Ich muss los." Sie entsperrte ihr Handy mit ihrem Fingerabdruck und ließ den Voiceover-Assistent ihre Nachrichten vorlesen.
„14 Anrufe in Abwesenheit, vielleicht sollte ich meine Ma mal zurück rufen, das kann was geben! Charly! Wo hab ich denn meinen Stock?" Sie griff ins leere. Normalerweise merkte sie sich genau, wo sich was befand, doch sie war etwas nervös bei der Vorstellung was sie zuhause erwarten würde.
„Hier."
„Danke. Komm Charly!" Der Golden Retriever gehorchte. Mia fühlte sich mit der Hand an seinem Geschirr weniger orientierungslos, wenn auch trotzdem noch aufgebracht.

Vielleicht sollte Henni auch mal ihre Nachrichten abrufen. Aber wo zur Hölle war ihr Handy? "Ich bring dich nach Hause okay? Wo wohnst du denn?"
„Richtung Bauernfelder, in der letzten Ecke der Stadt."
„Spießig, da was? In der Gegend wohnt Adri auch. Klasse Häuser, aber ein bisschen zu eingebildet die Leute."
„Adri?"
„Adriane."
„Wer ist Adriane?"
"Meine Freundin."
"Deine Freundin?" Mia fragte um sicherzustellen, dass sie beide vom Gleichen sprachen.
"Ja, wir haben bald Zweimonatiges." sagte Hendrikje beiläufig, während sie sich einen quitschgrünen Mantel überwarf und Mia und Charly aus der Wohnung geleitete.

Innerlich fluchte Mia. Zu Hause würde sie Ärger bekommen, weil sie sich nicht abgemeldet hatte. Was sollte sie sagen? Dass sie die Zeit vergessen hatte? Ein bisschen gab sie auch Charly die Schuld. Jenna schien ein Zeitgefühl zu haben. Sie hatte es im Gefühl, wann Mia gehen musste. Ihre Schnauze stupste immer in ihre Seite, wie ein Kind, dass seine Mutter zum Gehen auffordern wollte. Charly war ein ausgezeichneter Blindenführhund, aber er hatte ein Manko, das über seiner gesamten Beziehung zu Mia stand und auch nicht in Tausend Jahren weggehen würde: Er war nicht Jenna.

Die beiden Mädchen verabschiedeten sich mit einer Umarmung. Die letzte Biegung würde Mia alleine gehen. Besser keine peinliche Gegenüberstellung mit ihren Eltern. Als Mia an ihrem Haus ankam war es bereits einige Minuten nach zwölf. Bevor sie den Schlüssel ins Schloss drücken konnte, wurde die Tür aufgerissen. "Wo warst du?!" Die Frage hatte mehr mit einer Anschuldigung gemein als wirklich mit einem Wunsch nach Auskunft.
"Unterwegs." Mia würde das Donnerwetter ertragen. Auf eine Diskussion würde es sich nicht lohnen sich einzulassen, auch wenn sie im Recht war. Aber dafür war sie zu müde.
"Es ist Mitternacht, du bist 17 und stromerst durch die Gegend. Blind!" Das letzte Wort brachte Mia dazu ihre Prioritäten über den Haufen zu werfen. Ihre Blindheit konnte doch nicht immer gegen sie verwendet werden! Sie kam doch damit zurecht! Ihre Eltern führten dieses "Argument" doch nur an, weil ihnen nichts besseres einfiel um sie davon abzuhalten ihr eigenes Leben zu führen! Sie hatte es so satt. War ihre Blindheit etwa eine herausragende Eigenschaft, auf die man sie reduzieren konnte? Sie selbst nahm sie doch garnicht wahr, verdammt!
"Und ihr denkt, dass eure blinde, behinderte Tochter alleine nichts auf die Kette bekommt oder was? Dass sie nur bei Mami an der Hand etwas geschissen bekommt? Ihr habt null Ahnung, ihr interessiert euch auch nicht für mich. Solange alles nach eurer verfickten Pfeife tanzt ist alles gut!" Mia erschrak etwas über ihre Worte und doch bereute sie sie nicht. Sie sprach nur das aus, was sie seit langer Zeit schon dachte. Alles platzte nur so aus ihr heraus ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Sie fürchtete eine Standpauke zu bekommen, wie sie sie noch nie zu hören bekam. Und doch blieb es ruhig. Nur das leise Atmen ihres Vaters war zu hören. Scheinbar überlegte er, was er nun seiner ausfallenden Tochter entgegensetzen sollte.
"Du bist die, die keine Ahnung hat. Du verstehst nicht das Geringste davon, was es heißt Verantwortung zu übernehmen. Du bist egoistisch, du bist undankbar und respektlos!" Mia kämpfte gegen eine Woge des Zorns an. Vielleicht stimmte das alles, aber was machte es für einen Unterschied? Sie dachte an sich, ja, sie war nicht dankbar, wofür auch, und Respekt? Wie konnte man etwas von ihr erwarten, dass man ihr schon lange nicht mehr entgegen brachte. Zwecklos sich um ein tolles Familienklima zu bemühen. Irgendwann hätte sie diese riesige Lawine an Vorwürfen sowieso losgetreten, es war nur eine Frage der Zeit. Es gab nichts mehr zu sagen. Kein Wort aus ihrem Mund konnte zur Entschärfung der Situation beitragen. Wortlos ging Mia in ihr Zimmer und warf sich auf ihr Bett.

Mia war nicht trotzig, auch wenn ihre Eltern nur diese Interpretation zulassen konnten. Ernsthafte Probleme konnte es in ihrer perfekten Familie doch nicht geben.
Nur weil sie blind war, war sie doch kein Baby oder eine Behinderte, die in der Welt da draußen nicht klar kam. Und überhaupt, was sollte das ganze Gerede über Behinderungen, sie war durch ihre Blindheit doch nicht behindert, sie vermisste gar nichts und konnte ihr Leben wie alle anderen auch leben. Ein bisschen anders vielleicht. Deswegen musste man sie doch nicht einsperren.
Sie warf einige Kissen gegen die Wand, bis sie das flauschige Herz und das scheiß Äffchen fand. In ihrem spärlich eingerichteten Zimmer gab es nichts anderes, das sie hätte zerstören können. Der dumpfe Aufprall des Textils an den Wänden war zwar nicht so befriedigend, wie es das Splittern von Glas gewesen wäre, aber nach einigen Minuten gelang es Mia dennoch sich zu beruhigen. Sie war erschöpft. Als sie einschlief erinnerte sie sich an die behutsamen Arme Hendrikjes. Sie wollte zu ihr, bei ihr sein, ganz nah.

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