Tillian fragte sich ob Henni nun mit Adriane oder dieser Mia was hatte. Vielleicht auch mit beiden, konventionelle Beziehungen waren ihr zuwider. Die jüngere, Mia, eine hübsche Brünette, war jedenfalls zu einem willkommenen Gast geworden. Sie war blind. Gut, dass er kein Maler geworden ist, dachte Tillian und zog seine Kopfhörer auf. Er brauchte einen freien Kopf und spülte mit basslastiger Musik seine Gedanken fort. Der Lärm, der durch seine Ohren drang brachte Stille in sein Inneres. Katharsis.
Mia fragte sich ob sie nun mehr Zeit in ihren eigenen vier Wänden oder bei Hendrikje verbrachte. Ihre Eltern wussten nicht, wo sie sich stundenlang umher trieb. Vielleicht dachten sie, Mia würde mit Charly die neue Umgebung erkunden. Besser so. Mia hatte keine Lust Hendrikje ihren Eltern vorstellen zu müssen. Noch weniger Lust hatte sie ihre Eltern Hendrikje vorzustellen oder gar gezwungen zu sein ihren Beziehungsstatus zu der Älteren zu definieren. Seit Tagen, genau genommen seit der Nacht in der sie sich ausgesprochen hatte, hatte sie nicht mehr mit ihren Eltern gesprochen. Kaum entwickelte sich ein Gespräch in der Familie hatte Mia das Gefühl ihren Eltern Rechenschaft ablegen zu müssen. Vielleicht war sie einfach eine undankbare Tochter. Und wenn es so wäre, dann war es eben so.
Charly führte Mia zu Hendrikjes Haustür. Er stoppte damit Mia nicht dagegen lief. Vor der Treppe blieb er stehen und stellte die Vorderpfoten auf die erste Stufe, wodurch Mia die Höhe der Stufen ungefähr abschätzen konnte. Mia stieg die steile Treppe zu Hennis WG hinauf. Es roch nach Bonerwachs und Spießigkeit. Das metallene Geländer war kalt. Ein wenig hallten ihre Schritte auf den schmalen Stufen. Hennis Wohnung lag im dritten Stock. Es gab zwar einen Aufzug aber Mia hatte einen gewissen Respekt vor Fahrstühlen entwickelt. Sie wusste nicht, ob es an der Enge des Raums lag, dem Gefühl des Fahrens, der ihre Orientierung durcheinander warf oder der Ungewissheit vielleicht mit einer Person, wenn auch nur für kurze Zeit, in einem Raum gefangen zu sein, die sie nicht einschätzen konnte. Außerdem schadete ihr das Treppensteigen als Mädchen mit zwei gesunden, wenn auch untrainierten, Beinen nicht.
Die Wohnungstür stand offen und so gleich kam ihr der vertraute Geruch von Lebkuchen zu jeder Jahreszeit entgegen. Mia wusste nicht, ob Henni die Tür absichtlich aufgelassen hatte weil sie Mia erwartete oder weil sie es vergessen hatte. Mia stieg aus ihren Schuhen und ihre Füße berührten den dünnen Teppich mit der vertrauten quadratischen Struktur. “Henni?“ Auch wenn sich Mia hier wie zuhause fühlte, war es ein ungewohntes Gefühl allein eine doch eigentlich fremde Wohnung zu betreten. Sie erhielt keine Antwort. Vielleicht hatte Henni einen Zettel hinterlassen. Witzig. Langsam setzte Mia einen Fuß vor den anderen als würde sie gerade etwas verbotenes machen. Dann hörte sie das leise Quietschen einer Tür und einen darauf folgenden entsetzten Schrei einer vertrauten Stimme.“Jesus!” Mia hatte Tillian fast zu Tode erschreckt, der mit Kopfhörern aus der Badezimmertür gegenüber der Wohnungstür kam. Sie schirmten ihn ziemlich gut von externen Geräuschen ab, stellte er fest. Noise-Cancelling. Die Blinde musste sich ebenso erschreckt haben. Das Bild von den Affen-Emojis schoss ihm in den Kopf, die Blindheit und Taubheit repräsentierten. Tillian zog sich die Kopfhörer von den Ohren. Auch jetzt noch war der Beat deutlich hörbar. “Hast du mich erschreckt… ”
“Ich? Du hast mich erschreckt!”
“Wie bist du überhaupt reingekommen?”
“Die Tür war offen.”
“Henni…” Es war eher eine Feststellung als eine Empörung. Hendrikje konnte froh sein, dass ihr Kopf angewachsen war.
“Ist sie denn nicht da?”
“Ist bei Adriane. Zweimonatiges feiern oder so. Vorglühen für die Party heute Abend.”
“Oh.” sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. “Dann geh ich vielleicht mal besser wieder.” Aber was hatte sie auch erwartet? Sie konnte Henni ja schlecht für sich alleine beanspruchen. Außerdem ist Mia in ihr Leben geplatzt. In ein Leben voller Freunde, Liaisons und eben einer Beziehung. Mit welcher Arroganz konnte sie glauben irgendeinen Sonderstatus bei Hendrikje zu haben. Sie wandte sich zum Gehen. “Bleib doch.” Tatsächlich wollte Mia das, aber es wäre einfach nur strange in Hennis Wohnung auf ihre Rückkehr zu warten. Noch dazu in der Gewissheit, dass sie von einem Rendezvous nach hause kam. Andernfalls war aber auch nichts verkehrt daran. Tillian lud sie schließlich ein und sie und Henni waren Freunde. Nicht Henni, sondern Mia war es, die in ihre Beziehung zueinander etwas interpretierte, das bei Hendrikje vermutlich gar nicht da war. Dieser Gedanke machte es aber nur ungleich bitterer. “Wir haben auch noch Käsespätzle über.” Tillian war kein Meister der Überzeugung, es reichte dennoch um Mia zum Bleiben zu animieren. Auch, wenn es nicht an den Spätzle lag.Tillian führte sie in die Küche und tat ihr auf. Die beiden aßen. Mia schmeckte wieder das verdächtige Paprika-Aroma und musste grinsen. Tillian kicherte, als erwiderte er ihr Grinsen akustisch. Er hatte ja keine Ahnung.
Charly hatte es sich auf Mias Kommando hin vor einem Objekt bequem gemacht, das vermutlich mal ein Schirmständer gewesen war, sich aber als Blumentopf ebenso gut machte.
“Ich mach das schon.” Tillian nahm ihr den leeren Teller aus der Hand. Entweder war es Anstand des Gastgebers oder er traute ihr nicht zu den Tisch abzuräumen. Hoffentlich das Erste. “Wer essen kann, kann auch den Abwasch machen”, hörte sie ihre Mutter immer sagen. Eigentlich wäre es Zeit zu gehen.
“Zeigst du mir was?” Es war eher die Suche nach einem Grund noch etwas länger hier zu bleiben, als wirklich Mias Verlangen etwas von Tillian zu hören.
“Klar. Wünsche?”
“An was du gerade arbeitest.”
“Es hat noch keinen Text. Keinen so richtigen.” Er führte sie in sein Musikzimmer. Etwas zu langsam, zu behutsam, als wäre sie ein Kind, das gerade erst Laufen lernte. Er meinte es ja nur gut… “Es heißt 'Kleiner als drei'.”
“Kleiner als drei?”
“Ja, dieses Piktogramm.” Tillian legte seine Finger auf die Klaviatur und spielte einige Takte.
“Ach so, das Herz?”
“Ja. Ist ein angefangener Liebessong. Ein weiterer.” Das Keyboard verstummte. “Das wars auch schon. Ist noch nicht so viel.” Das war es wirklich nicht. Einige Akkorde hintereinander und ein seichtes Zwischenspiel, aber harmonisch.
“Hat Potenzial.” Die Phrase war zwar abgedroschen, aber sie war das beste, das Mia dazu einfiel. “Bin gespannt, wie das ganze mit Text klingt.”
“Du kannst doch auch Klavier spielen oder?”
“Ein bisschen, ja.”
“Lass mal hören.”Der Klang des E-Pianos war nicht so rein, wie der des verstimmten Flügels zuhause. Mia hatte gelernt die verstimmten Tasten nicht zu benutzen. So fehlten einige Töne in ihren eigenen Melodien, was ihnen aber eine besondere Handschrift verlieh. Sie nahm auf dem Kachon vor dem Keyboard Platz, gab Charly das Kommando sich in eine Ecke zu legen und erfühlte die vor ihr liegende Oktave. Dann tänzelten ihre Finger über die Klaviatur. Die ersten paar Takte waren immer “River flows in you”, danach improvisierte sie. Das Cis und das H waren welche der verstimmten Saiten und so musste sie andere Wege finden, weiter zu spielen. Die Harmonien von Dur und Moll umhüllten sie und für den Moment gab es nur sie und die Musik. Ihre Finger wussten genau wo sie hin mussten, ohne dass Mia selbst es wusste, als würden sie von einem unsichtbaren Faden gelenkt werden. Intuition. Vielleicht war es das, was andere Menschen Farben nannten. In der Musik, so war sich Mia sicher, zeigte sich ihr wahres Selbst. Die Musik war Ausdruck ihrer Gefühle. Sie war das, was kein Wort sagen konnte, das, was keine Berührung erahnen ließ, keine gespielte Emotion, nur sie selbst.
Es war faszinierend dem Mädchen zuzusehen, wie es Melodien spielte, die sie scheinbar gerade ersann, wie ihre zarten Finger wie magisch über die Tasten glitten und das Zimmer trotz des etwas blechernen Tons in warme Klänge tauchte. Sie war talentiert, ohne Frage.
“Du schreibst aber nicht selber Songs, oder?”
“Nicht richtig. Ich spiel mehr so spontan. Das heißt ich hab manchmal Gedanken und versuche daraus ein paar Zeilen zu machen. Aber nein, nicht so wie du meinst. Ich hab keine Ahnung von Reimschemata, Strukturen oder dem Aufbau eines Liedes.”
“Viel mehr ist das bei mir auch nicht. Reime müssen nicht immer hundert Prozent rein sein. Der Aufbau spielt auch keine große Rolle oder die Struktur. Ist ja kein Handwerk, bei dem es richtig oder falsch gibt. Weißt du ich glaube diese ganzen Regeln haben keine Bedeutung, wenn es darum geht etwas zu erschaffen, das jemanden berührt. Kunst darf sich nicht an Regeln halten müssen. Sie muss frei sein, das macht sie aus.”
“Na ja, erfolgreich wirst du mit sowas nicht. Die Regeln gibt es ja nicht ohne Grund.”
“Ein Künstler, der arbeitet um erfolgreich zu sein ist verloren. Klingt eher nach einem Unternehmer.” Tillians Idealismus war süß. Er hatte nur nichts mit der Realität zu tun. Es war eine Welt wie sie sein könnte. Eine Welt, wie sie sein sollte.Das Klacken des Türschlosses beendete das Gespräch. Henni war offenbar wieder gekommen, aber da war noch ein Geräusch. Das rhythmische Aufsetzen von hohen Schuhen. Das konnte nur eines bedeuten. Henni war in Begleitung von… Adriane.
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BLICKWINKEL
Genç KurguNach dem Tod ihres Blindenhundes glaubt Mia die Welt könnte nicht noch mehr aus den Fugen geraten. Spoiler: Doch. Nach einem Umzug muss sie ihre Vergangenheit von jetzt auf gleich hinter sich lassen. Ihr Leben scheint wie ausgetauscht. Alles steht K...