Mia öffnete das Fenster. Die Luft war stickig in dem neuen Zimmer. Ihrem neuen Zimmer. Es war zwar etwas größer als ihr altes, aber kälter. Die Wände waren rauer, die Körnung der Tapete intensiver. Der Geruch ungewohnt. Befremdlich. Der Raum klang leer. Fast hallte er. Er war eingerichtet, mit allem was Mia benötigte, aber der Mangel an Vorhängen, Polstern und selbst einem Teppich machte ihn zu einem Gefängnis. Als bräuchte man Vorhänge nur um die Sonne aus seinem Zimmer zu verbannen. Sicher, das Haus war abgelegen und niemand würde durch die Fenster hinein spähen können, es ging raus auf ein Feld, aber die Abwesenheit von so selbstverständlichen Dingen wie einem Vorhang erinnerten Mia immer daran anders zu sein. Mias Bett und Charlys Hundedecke war das einzig weiche hier. Nichts schönes war hierin. Keine Poster an den Wänden, keine Spiegel, keine Uhr. Das Zimmer war leer. Nichts, das Schall schluckte, keine Dekoration, keine Bücher, keine Bilder, keine Seele.
Mia warf einige Kissen auf ihr Bett, die einzigen Objekte, die sie noch an ihr früheres Zimmer erinnerten. Sie rochen noch nach Heimat, aber es war eine Frage der Zeit, bis der Duft verfliegen würde. Ihr Lieblingskissen war ein herzförmiges, das sich wie eine flauschige Federboa anfühlte. Ihre Mutter hatte es ihr geschenkt. Die gleiche Frau, die ihr so in den Rücken gefallen war. “Lass die Situation doch erstmal auf dich zukommen, Mia-Maus.” Naiv. Mia war etwas sauer auf sich selbst, dass sie diesen Gegenständen eine so hohe Bedeutung beimaß. Scheiß Sentimentalität. Genauso war es mit einem kleinen Plüschhasen - oder -Affen? -, den ihr Vater ihr geschenkt hatte. Sie war vier oder fünf. Das etwas abgenutzte Tier war über die Jahre ganz schön in Mitleidenschaft gezogen worden. Er musste immer mit zur Schule kommen um ihr das Gefühl zu geben nicht alleine zu sein. Wie viele Geheimnisse sie ihm schon anvertraut hatte?... Kurz darauf wurde das Wattesäckchen mit den verkratzten Perl-Augen von Jenna abgelöst. Ihr konnte man ebenso Geheimnisse anvertrauen, aber sie gab Mia nicht das Gefühl wie eine dreijährige zu leblosen Puppen zu sprechen. Aber Mia hing an dem blöden Stofftier und brachte es nicht übers Herz es wegzuschmeißen, auch wenn es bedeutete, dass es den Rest seiner Existenz in irgendeinem Regal Staub fing.
Ihr neues Zuhause war langweilig. Anonym. Ohne Erinnerungen. Mia saß schon seit zwei Stunden in dem ausladenden Wohnzimmer und klimperte auf einem Flügel vor sich hin. Immerhin konnte sie nun spielen, wann sie wollte. Einer der wenigen Vorteile ihres neuen Hauses. Zumindest, wenn man nicht so intensiv hinhörte. Der Flügel war mehr Statussymbol als Instrument.
Mia musste hier raus. Das neue Haus war trotz seiner Größe beengend. “Na komm, Charly.” Es klang noch immer komisch diese Aufforderung mit dem Namen Charly zu beenden. Ein bisschen wie Fremdgehen. Auch wenn der Hund hörte und genau wie Jenna begleitet von dem Rasseln seines Halsbandes auf Mia zugerannt kam, so war es doch ein anderer als der, den sie über so viele Jahre lieb gewonnen hatte. Charly war ein toller Hund, ohne Frage, seine 18 Monate Lebenszeit hatten fast nur aus professionellem Training bestanden, aber es gehörte eben mehr dazu… Es klang kitschig, Mias Beziehung zu Jenna Freundschaft zu nennen, aber es war genau das. Zwei Individuen, die alles füreinander geben würden.
Natürlich konnte Charly nichts dafür, wie er war. Mias Leben schien nur so abgerissen. Ihre vertraute Umgebung, weg, ihre Freunde, weg, Jenna, weg. Charly war das Sinnbild ihres neuen, blöden Lebens, als hätte alles Negative seinen Ursprung in ihm.Die am Geschirr befestigte Leine war etwas zu stramm. Nicht sehr stramm, aber strammer als es bei Jenna immer der Fall war. Als würde Charly vorauseilen, wie ein Kind, dass es nicht erwarten konnte um die nächste Ecke zu biegen. Nicht so gelassen, wie eine alte Freundin, mit der man sich unterhielt. Zuerst traute sich Mia nicht allein mit Charly in die Stadt. Nicht weil sie Angst vor Konfrontationen hatte, aber die Wald- und Feldwege um ihr Haus herum schienen geeigneter um sich an ihren neuen Begleiter zu gewöhnen. Abgesehen davon war es auch einfach entspannter durch diese ruhige Gegend zu spazieren. Hier konnte sie ihren Stock zuhause lassen und sich auf ihr Gefühl verlassen.
Hin und wieder kamen Mia und Charly andere “Hunde-Leute”, Jogger oder Fahrradfahrer entgegen. Man kann ja nicht alles haben, dachte Mia, die die Einsamkeit vorzog. Es war ja keine Einsamkeit in dem Sinne, es war einfach die Abwesenheit von Gesellschaft. Die Abwesenheit von Stress. Wo auch immer Menschen auftauchten wurde es Mia schnell unbehaglich. Angst vor Kontrollverlust. Panik.Überall waren Menschen. Keine Spur von Jenna. Noch nie war sie weggelaufen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte Mia die Hand vom Geschirr genommen, um ihre Tasche zu öffnen, „Jenna, bleib!“, aber ihre Hündin wurde von einer Person auf hohen Hacken weggedrängt, das hörte man auf dem Kopfsteinpflaster. Warum nahmen die denn keine Rücksicht? Mias Eltern hatten sie früher nie ohne ihre Armbinde aus dem Haus gehen lassen, aber dann hätte sie sich auch genauso gut ein Schild umhängen können: “Bin behindert, bitte helfen Sie mir!” Ihren Stock hatte sie zum Glück noch in der Tasche. Auch damit kam sie klar, aber ein Kunststoffstab war längst nicht so verlässlich wie ihre Jenna. Minuten lang rief sie nach ihr, die schlimmsten Minuten ihres Lebens, bis sie von Jennas Tod abgelöst wurden.
Luft strömte in Mias Lungen, als sie tief ein atmete um die traumatischen Gedanken aus ihrem Geist zu verbannen. Diese ständige Angst war nur in ihrem Kopf und sie in Sicherheit. Aber es war ein ewiger Kampf. Allein die unfreiwillige Berührung jemand fremdes versetzte sie wieder in die Fußgängerzone drei Jahre zuvor.
Mia zog kurz an der Leine um Charly das Zeichen zu geben zurück zu laufen. Der Hund gehorchte. Sicher führte er sie zurück nach Hause und Mia stellte sich vor, dass es Jenna war, die sie zog, die es kaum erwarten konnte Zuhause mit ihr zu kuscheln, die sich an sie schmiegte und ihren Kopf in ihren Schoß legte. Eine Träne benetzte ihre Wimpern. Charly konnte sie nicht verstehen.
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Fiksi RemajaNach dem Tod ihres Blindenhundes glaubt Mia die Welt könnte nicht noch mehr aus den Fugen geraten. Spoiler: Doch. Nach einem Umzug muss sie ihre Vergangenheit von jetzt auf gleich hinter sich lassen. Ihr Leben scheint wie ausgetauscht. Alles steht K...