Kapitel 8 - Realistische Romantik

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Henni und Adriane tanzten ausgelassen. Ihre rhythmischen Bewegungen wurden nur von intensiven Küssen unterbrochen. In der Luft lag ein Knistern, ein berauschendes Gefühl. Obwohl der Raum voller Menschen war, gab es für den Moment nur sie beide. Ein Liebespaar. Zwei Menschen, die für einander empfanden. Zwei? Verdammt, wo war Mia? Hendrikje löste sich aus dem umschlungenen Griff Adrianes. Das Mädchen  hielt sie fest als hätte sie Angst, irgendwer könnte ihr Henni wegnehmen.
Verflixt, wo war sie? Hendrikje kämpfte sich durch den Dschungel tanzender Arme und Körper. Mia war nirgendwo zusehen. Neben der Sorge um ihre Freundin mischten sich auch Schuldgefühle in ihre Gedanken. Sie hatte ihre Freundin, ihre blinde Freundin im Stich gelassen, während sie sich mit Adrianes die Zunge in den Hals steckte. Scheiße, scheiße, scheiße. Was, wenn sie Hilfe brauchte? Was, wenn sie gestürzt war? Oder ohnmächtig? Sie hatte doch wohl nicht etwa etwas getrunken, was man ihr anbot? Ein Horrorszenario war schlimmer als das andere und das allerschlimmste war, dass sie selbst ihr das eingebrockt hatte. Nachdem Henni die Tanzfläche dreimal abgesucht hatte, Adriane im Schlepptau, die ihre Besorgnis gar nicht zu verstehen schien, war klar, dass Mia sich nicht mehr hier drinnen befand.

“Du siehst gar nichts?”
“Nada.”
“Ist jetzt bestimmt ne blöde Frage… Schon immer?”
Es gab keine blöden Fragen, dachte sich Mia. Nur zu häufig gestellte. “Ja. Ich habe nie auch nur eine Farbe gesehen.”
“Trostlos?”
“Ich vermisse ja nichts. Bleibt nur das ewige Rätsel was die ganzen Verrückten mit 'gelb' und 'rot' meinen und welche Farbe das mysteriöse Kleid hat.”   
Juli öffnete eine Flasche an einem Metallgitter. “Schwarz-Blau. Sieht man doch. Weiß garnicht, was die alle haben.” Er hielt Mia die Flasche an den Arm, so dass sie sie greifen konnte.
“Ne danke.”
“Ist alkoholfrei. Bin auch nicht so der Alkoholtyp… Würdest du denn sehen wollen?”
“Ich glaub nicht.”
“Nicht?” die Überraschung konnte er kaum verbergen.
“Ich komme ja klar so. Aber wenn ich plötzlich einfach einen Sinn dazu bekommen würde… Das würde sich anfühlen wie ein Drogentrip oder so. Ich müsste mich dann auch erstmal zurecht finden. Ich kann ja nicht mal lesen. Farben müsste ich wie Vokabeln lernen. Ne…”
“Krass… Kannst du dir Farben vorstellen?”
Mia war belustigt. “Stell du dir mal eine neue Farbe vor.”

“Sie ist doch kein Baby. Bestimmt hat sie sich mit einem Typen in eine ruhige Ecke verzogen.” Adrianes Worte machten eher den Anschein eine Ausrede zu sein mit der Suche aufzuhören als wirklich eine Möglichkeit, die sie in Betracht zog. Nein, das sah Mia nicht ähnlich. “Sie spielen ABBA! Ich hab uns vorhin Voulez-Vous gewünscht.” Selbst das war Henni im Moment egal. “Was ist wenn sie Hilfe braucht, Adri?!”
“Es ist unser Zweimonatiges. Glaubst du denn, du bist die einzige, die ihr helfen kann? Du bist nicht ihre Mutter.”
“Weißt du was, Babe, dann bleib doch einfach hier. Ich brauch dich nicht.” Adriane schwieg. Hendrikje begriff, wie sie es verstanden haben musste. Adriane wandte sich ab und verschwand in dem Dschungel, der sie rhythmisch zurück in sein Dickicht zog.

“Meinst du, dass es gut wäre, wenn jeder blind wäre?”
“Was ist das denn für eine Frage?” Mia war irritiert. Kein Sehender wollte blind sein.
“Na ja…” Juli stützte sich auf die Balustrade. “Menschen urteilen schnell. Zu schnell. Sie stecken Menschen in Schubladen, drücken ihnen Stempel auf, verurteilen sie. Jeder. Du, ich… Vorurteile halt. Aber du kannst Menschen nicht nach ihrem Äußeren bewerten. Das ist ein Segen glaub ich. Sonst würdest du nicht viel mit mir zu tun haben wollen, schätze ich.”
Mia wandte sich zu ihm um. “Denkst du das? Weil du mich siehst? Hältst du mich für eine Spießerin?” Juli lachte. “Tuche.” Nun lachte auch Mia.
Die Nacht war kühl, aber nicht kalt. Angenehm im Gegensatz zu der Hitze im Gebäude. Juli legte Mia etwas über die Schultern. Eine Jacke oder einen Pullover. Eine nette Geste. Mia hatte noch nie einen Pulli von einem Jungen bekommen. Sie versuchte sich ihn vorzustellen. Eine tiefe Stimme, kräftige Arme, einen Kopf größer als sie… Jemand, den man sich als Beschützer wünschte. 
“Du meinst man würde dich für dein Aussehen verurteilen?”
“Klar. Wahrscheinlich seh ich deswegen ja auch aus, wie ich aussehe. Mir ist egal, was Menschen über mich sagen. Belanglos. So trennt sich die Spreu vom Weizen, weißt du?”
“Dann ist es dir ja nicht egal. Du willst Leuten auf den Schlips treten.”
“Wenn sie sich auf den Schlips treten lassen. Streck mal die Hand aus.” Mia gehorchte, wenn sie auch nicht wusste, was Juli vorhatte. “Und jetzt den Finger.” Sie tat es. “Da ist der Fick.”
Mia lachte. “Ich seh nichts”
“Eben. Es gibt keinen. Who cares? Scheiß auf das Judgement. Seh aus, wie du aussehen willst, sag, was du sagen willst, lieb wen du lieben willst.”

“Ach, hier bist du!” Das Mädchen, das aus der Halle stürmte war völlig aufgelöst. Henni nahm von Juli gar keine Notiz. Ihre Aufmerksamkeit galt nur Mia. “Geht es dir gut?”
“Ging mir nie besser.” Mias Stimme klang kühler als beabsichtigt und so könnte man eine gewisse Ironie in sie interpretieren. Tatsächlich aber fühlte sich Mia sehr wohl. “Es tut mir so leid!” Henni nahm Mia in ihre Arme.
“Schon okay, du bist doch nicht meine Aufpasserin.”
“Chronisches Helfersyndrom, hm?” Juli wuschelte durch Hennis Haare. “Sehr witzig. Ihr versteht euch?” Hendrikje bemerkte offenbar erst jetzt die Jacke auf Mias Schultern. “Wir halten uns aus. Wo hast du dein Chic gelassen, Schwester?”
Henni verdrehte die Augen in Erwartung dessen, was diese “Beziehungskrise” nach sich ziehen würde. Adriane war manchmal schwierig. Sie hatte Verlustängste. Vielleicht machte es deswegen den Anschein, dass sie Henni niemals von sich gehen lassen konnte. Eifersucht nannten andere das, aber es steckte viel mehr dahinter. Sie hatte selten wirklich Liebe erfahren, kam aus spießbürgerlichem Elternhaus und hatte ihr Leben lang um Anerkennung kämpfen müssen. Hendrikje allein gab ihr das Gefühl etwas wert zu sein. Sie war ein Anker. Es konnte ihr ja wohl keiner verübeln, dass sie diesen behalten wollte.
“Ich werde sie suchen gehen. Ist doch okay oder?”
“Klar. Mia ist hier gut aufgehoben.”
So fühlte sich Mia auch. Der Junge gab ihr irgendwas. Irgendetwas besonderes. “Weiber, oder?” Er zündete sich eine Zigarette an. “Verdrehen jedem den Kopf und wissen es nicht mal.” Mia spürte, wie sie rot wurde. Sie hatte das Gefühl ertappt worden zu sein.
“Ich, also ich glaube… Ich bin mir-”
“Du bist dir nicht sicher.” führte Juli den Satz zu ende. Er verstand sie.
“Nicht so richtig… Aber... Das merkt man doch oder? Also ob da was ist oder nicht…”
Juli hauchte den Rauch seiner Zigarette in die kühle Nacht. “Es gibt mehr als nur 'Liebe' oder 'keine Liebe'. Gefühle sind nicht binär. Keine Einsen und Nullen. Viele Graustufen.”
“Bist du straight?” Juli machte nicht den Eindruck schwul zu sein, aber sein Gerede von Graustufen klang nach dem typischen LGBTQ-Narativ.
“Wer ist zu hundert Prozent straight? Klar, man kann ein Geschlecht anziehender finden als das andere. Aber ich glaub der Fehler liegt schon darin ein Geschlecht zu lieben. Es geht doch um den Menschen.”
“Du meinst jeder ist Pan?”
“Jeder, der sich wirklich über Liebe im Klaren ist, schon. Alles andere ist doch Evolution. Selbsterhaltungstrieb, aber keine Liebe. Sind wir nicht weiter?”
Mia schwieg. Julis Worte klangen so durchdacht und… wahr.
“Menschen denken immer in Schubladen. Arm oder Reich. Rechts oder Links. Behindert oder Gesund. Hete oder Homo. Paar oder Freunde… Diese Kategorien bedeuten nichts. So ist die Welt nicht. Sie wäre zu einfach.”
Mia ließ sich an der kalten Steinwand zu Boden gleiten, bis sie auf den gitternen Metallstufen zu sitzen kam. “Henni scheint ihre Entscheidung getroffen zu haben.”
“Dann kennst du Henni nicht.” Juli lachte. “Sie ist nicht so naiv zu glauben die große Liebe gefunden zu haben.”
“Dann ist ihre Beziehung zu Adriane nur oberflächlicher Natur?”
“Nein. Sie lieben sich. Sind auch echt süß zusammen. Aber die wenigsten Beziehungen halten ewig. Es ist nichts unromantisches daran, sich das einzugestehen. Wir nennen es 'realistische Romantik'. Und das heißt auch, dass sie andere Menschen zu lieben weiß. Nicht auf derselben Ebene vielleicht, aber wie gesagt, es gibt nicht nur die Liebe und das Nicht-Lieben.“
Das Mädchen lehnte sich mit ihren Kopf an die Mauer. Julis Worte waren wie prophetische Weisheiten. Sie wusste nicht, ob es durch diese Erkenntnisse war, oder ob sie nur gerne wollte, dass es so war, dass sie in Hendrikje nicht mehr nur ihren Schwarm sah sondern… Henni eben. Ihre Freundin. Eine Verbindung, die sich nicht kategorisieren ließ.

Als Mia wieder in die Menschenmenge trat, fühlte sie sich sicherer. Julis Arm lag auf ihrer Schulter und manövrierte sie sicher durch die Crowd. Beide tanzten. Nicht passend zur Musik, sondern auf eine ganz eigene Art. Eine schöne Art. Seine Arme legten sich um ihren Hals, ihre um seine Hüfte und man könnte sie für ein Liebespaar halten. Zu allem Überfluss küssten sie sich auch noch. Ein unverbindliches Zeichen gegenseitiger Zuneigung. Nicht mehr. Kein Liebesschwur oder Beziehungsstatus. Einfach ein Ausdruck intensiver Gefühle und auf einmal waren alle ihre Sorgen weggewischt und sie konnte akzeptieren. Akzeptieren, dass sie einen neuen Begleiter hatte, dass sie in einer Stadt weit weg ihrer Heimat wohnte und dass Henni mit Adriane zusammen war. Ein Gefühl, wie sie es lange nicht mehr spürte. Fast so etwas wie Glück.

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