Kapitel 3 - Placeboeffekt

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Adriane war unfähig sich zu bewegen. Vielleicht lag es an ihrem Kater, vielleicht an einer Lethargie, die sie immer heimsuchte, wenn ihr Tag jeglicher Struktur entbehrte. Das Gesicht auf die Matratze gepresst, versuchte sie angestrengt einzuschlafen, doch sie war nicht müde. Sie schaute auf die Uhr. 14:23. Eine beschissene Zeit.
Sie fühlte sich irgendwie liegen gelassen. Ungeliebt. Henni hatte sich nicht bei ihr gemeldet. Sie wünschte sich die letzte Nacht zurück, in der sie Arm in Arm mit Henni einschlief. Der Kontakt mit ihr war in gewisser Weise eine Selbsttherapie. Sie konnte ihr ihr ganzes Herz ausschütten. Ihr unperfektes Leben, ihre unperfekte Familie, ihre unperfekten Freunde, all das war bei Henni wie weggewischt. Bei ihr war sie glücklich, nur bei ihr. Sie liebte sie und sie dachte, Hendrikje würde sie auch lieben. Jetzt meldete sie sich aber nicht. Etwas frustriert setzte Adriane die achte Nachricht ab. Die grauen Haken waren so unbefriedigend, wie die sieben davor, und brachten Adriane dazu wieder ihren Kopf in die Matratze zu bohren.
Ihr Blick wanderte die Schrankwand ihres Schlafzimmers entlang auf der Suche nach irgendetwas, das sie ablenken konnte. Äußerlich sah ihr Zimmer aufgeräumt aus, aber die Sachen, die Adriane nicht in die Schränke und Schubladen geworfen hatte - aus den Augen aus dem Sinn - waren obwohl sie säuberlich arrangiert waren durcheinander. Das genaue Gegenteil von Hennis Wohnung. In ihrem chaotischen Wirrwarr schien Henni die totale Struktur zu durchblicken. In ihrer eigenen Ordnung fühlte sich Adriane verloren.
Auf einem Stapel lagen Zeitschriften und Bewerbungsunterlagen, auf einem anderen Briefe, teils gelesen, teils ungelesen und Notizzettel. In den Schubladen lagen Stifte neben Technik-Krimskrams und Geduldsspiele neben Kosmetikartikeln. Sie fühlte sich als wäre ihr ganzes Zimmer nur eine halbherzig eingerichtete Kulisse in einem halbherzig geschrieben Film. Und sie spielte die Hauptrolle darin.

“Da wären wir.” Hendrikje schloss ihre Wohnungstür auf. “Kannst die Schuhe einfach auf den blauen- auf den Teppich stellen. Fühl dich hier wie zu Hause.” Mia hörte das Klappern eines Schlüssels in einem Holz-Schälchen. “Ich wollte gleich was kochen, kannst mitessen. Gebratene Nudeln? Darf Charly Lebkuchen?”
“Ne. Er soll auch nicht daran gewöhnt werden von Unbekannten zu essen.” Mia hörte wie Hendrikje einen Teller zurück auf einen Tisch stellte. “Okidoki. Nudeln? Also du.”
“Ich will hier niemandem zur Last fallen.” Sie frage sich wie ihre Eltern reagieren würden, wenn sie eine Quasi-Fremde mit nach Hause brächte um sie durch zu füttern. “Tust du nicht. Hab dich doch eingeladen.”
“Und deine Eltern?”
“Ist ´n bisschen kompliziert. Und irrelevant. Ich wohne hier alleine. Also nicht ganz, mit nem Mitbewohner halt.”
“Klingt spannend. Spannender als mein Leben. Meine Eltern würden mich in Luftpolsterfolie packen, wenn sie könnten.”
“Ich liebe Luftpolsterfolie!” gretschte Hendrikje dazwischen. Wie um sich zu bestätigen vernahm Mia das leise platzen von den kleinen Luftkammern, die Gegenstände von Stößen abfedern sollten. Die Knisterfolie war der Kick des spielzeug- und hobbylosen Kindes. Fast eine Zwangsstörung. Sie war es, die Menschen vereinte, egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Sie war der gemeinsame Nenner, die Verbindung zu jedem Menschen auf der Welt. Oder sie war einfach eine Folie zur Stoßdämpfung, das lag im Auge des Betrachters.
“Was hörst du so für Musik, Mia?” Mia überlegte. Wollte sie sich die Blöße geben zu gestehen, alte Klavier-Balladen zu hören? “Dies und das. Was im Radio läuft halt.” Da kannte sich Mia immerhin etwas mit aus, wenn sie sich für die oberflächliche Gefühlsduselei auch nicht besonders interessierte. Die Begeisterung in Hendrikjes Stimme war kaum zu überhören. “Dann bist du ja ein unbeschriebenes Blatt! Ich zeige dir mal richtig guten Stoff. Alexa, spiel ABBA - Voulez-Vous!” Promt ertönte aus einem Lautsprecher der Song. Mia erinnerte sich vage. Es war doch Teil dieses einen Musicals, das sie Mal mit ihrer Mutter im Fernsehen geschaut hatte. Das musste Jahre her sein. Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Nostalgie. Damals war die Welt noch in Ordnung.
Hendrikje kramte Pfannen und Teller aus einigen Schränken hervor, während sie lautstark und nicht besonders harmonisch mitsang. Mia wusste nicht recht, was sie tun sollte. Sie konnte zwar kochen, jedoch nur in ihrer alten Küche, wo sie genau wusste wo was war, wo jeder Handgriff saß. Das Klappern von Porzellan und Plastik war zu hören. “17.03. Geht das noch? Bestimmt.” Es war Anfang August, aber Mia traute sich nicht zu widersprechen.

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