Kapitel 2 - Lebkuchen

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Hendrikje taperte auf Stoppersocken durch ihre WG. Sie hatte einen Fressflash und hoffte im Kühlschrank etwas zu finden, dass ihren Hunger stillen konnte. Selbstverständlich hatte sie ihn nicht befüllt, aber seitdem sie mit Tillian zusammen wohnte, hatte sie die Hoffnung sich etwas von seinen Vorräte leihen zu können, wenn sie auch “leihen” sehr großzügig auslegte. Wie ein Wolf nahm sie auf allen Vieren vor dem Kühlschrank Platz - Schrödingers Kühlschrank, wie sie zu sagen pflegte: Solange sie ihn nicht öffnete war es gut möglich, dass unermessliche Vorräte auf sie warteten. Wenn sie ihn aber öffnete, musste sie vielleicht der traurigen Wahrheit, einer gähnenden Leere, entgegen blicken. Sie zögerte. Noch war alles möglich, der Kühlschrank war sowohl leer als auch rappelvoll. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Zwar eröffnete sich ihr hier kein Schlaraffenland wie das Tor zu Narnia - wie sie es insgeheim gehofft hatte - aber immerhin hatte Tillian einen Quark und ein Glas mit Essiggurken zurückgelassen. Ein Fehler… Hendrikje warf das Post-it, dass er ihr hinterlassen hatte mit der Aufschrift “T-I-L-L-I-A-N-S !-!-!” beiseite und machte sich so gleich eilig daran die Gurken in den Quark zu tauchen. Gab es was besseres? Vielleicht Lebkuchen. Henni kaufte bereits im September so viel Weihnachtsgebäck, dass es das ganze Jahr über reichte. Die Gesellschaft war es, die Zimtsterne, Spekulatius und Dominosteine zum Weihnachtsgebäck erklärte. Hendrikje konnte sich das ganze Jahr über damit vollstopfen, doch im Moment gab es nur sie und die Quark-Gurken. Phänomenal.
Sie spürte das vibrieren ihres Handys. Ihr Wecker. Sie war verabredet. Seit Monaten schon stöberte Hendrikje nach einer Popcornmaschine, bis sie schließlich auf Ebay Kleinanzeigen ihr Glück fand. Sie brauchte sie nur abholen. Heute. Jetzt!

Die Stadt war so anders als alles, was Mia vertraut war. Jede Stadt, die sie kannte, klang anders. Einzigartig. Diese auch, aber nicht schön. Hier redeten die Menschen nicht so viel. Die Geräusche, die aus Cafés drangen wurden von hektischem Verkehrslärm verschluckt. Es war ein unruhiger Ort. Alle Menschen schienen es eilig zu haben, als würde ihnen die Zeit davon rennen. Dieses Gefühl kannte Mia nicht. Sie war ein einziger Ruhepol. Wie sollte es auch anders sein, man konnte ihr ja schlecht einen vollgepackten Zeitplan zumuten. Kaum zu glauben, dass andere ihren Luxus als langweilig empfanden und sich schnell wieder abwandten um zurück in ihr Hamsterrad zu kehren. Das gleiche Hamsterrad, auf das sie so schimpften.
Charly führte sie durch ein Bahnhofsgebäude. Auch wenn hier die Menschenansammlungen mit Abstand am größten waren, fühlte sie sich hier einigermaßen gut aufgehoben. Der Duft von Kaffee wehte aus einem Starbucks zu ihr hinüber. Der süße Duft eines bitteren Unternehmens. Die Rillen im Boden, die zu den Gleisen führten, gaben ihr immer ein Gefühl von Sicherheit. Einer der wenigen öffentlichen Orte, die das Prädikat “Barrierefrei” auch verdienten. Sogar durch ihre Sneakersohlen spürte sie die Beschaffenheit des Weges. Geradlinig. Zielstrebig.
Aufmerksam setzte sie einen Fuß vor den anderen, während sie mit allen Sinnen die Reize ihrer Umwelt aufnahm. Die einheitlichen Rillen führten sie wie eine geheime Markierung, vom Rest der Menschen unbemerkt, durch die große Halle. Dann wurde Mia wie aus dem Nichts von einer Wucht vom Boden gerissen. Ohne Vorwarnung prallte Mia der Länge nach auf den kalten Stein. Sie hörte etwas Scheppern. Zerbrechen. “Ach du grüne Neune!” Was? “Kannst du nicht aufpassen?” Die Stimme kam nicht von oberhalb sondern etwa aus ihrer Höhe. Mia musste mit dem Mädchen, dass fluchend neben ihr lag zusammengeprallt sein.

Tillian war nicht der erste, der versuchte das Phänomen Hendrikje zu verstehen. Der kunterbunte Wirbelwind war gerade ausgeflogen um “das Leben in der WG nachhaltig zu verbessern.” Endlich, dachte Tillian. Ruhe war zu einem kostbaren Gut geworden, seitdem er mit Henni zusammen gezogen war. Klar würde Henni ihn arbeiten lassen, wenn er nur lieb genug darum bitten würde, aber man sollte ja nicht gegen den natürlichen Habitus eines Wesens ankämpfen. Das hibbelige Mädchen mochte hyperaktiv sein, aber Henni konnte auch eine warmherzige Zuhörerin sein - und eine gnadenlose Kritikerin. Sie sagte, was ihr durch den Kopf schoss, auch - oder vielleicht besonders - wenn man sie nicht fragte.
Die Küche glich einem Tatort. Tillian inspizierte ihn. Das erste Indiz für Hennis Anwesenheit in jüngerer Vergangenheit war das lieblos weggeworfene Post-it mit seinem Namen in unmissverständlichen Lettern darauf. Der Kühlschrank war leer, wie Tillian bei dem Anblick des leeren Gurkenglases kombinierte. Doch ein Geräusch drang aus dem Inneren des Kühlfachs. Langsam öffnete er die Tür. Hendrikjes Handy klingelte munter vor sich hin. Sie hatte einige Anrufe und Nachrichten in Abwesenheit. Die Deduktion war vollständig: Hendrikje musste ihre gemeinsame Wohnung schlagartig verlassen haben. “Chaotin” stellte er fest und räumte hinter seiner Mitbewohnerin her. Wie immer. Wie sollte sie jemals ohne ihn klar kommen?

Hennis Traum von einem besseren Leben mit Popcorn- dahin… Das Plexiglas der Maschine war beim Aufprall auf dem Boden zerbrochen. Verflixt! Vielleicht war Henni ein bisschen abgelenkt, sie hatte nur Augen für das Objekt ihrer langjährigen Begierde, aber wie konnte man nur so stur sein und nicht ausweichen? Aus den Augenwinkeln konnte sie nicht sehen, dass das Mädchen, das ihr entgegen kam, blind war. Jetzt sah sie jedoch den Hund, der sie unmissverständlich als solche kennzeichnete. Warum war ihr Mundwerk nur immer schneller als ihr Kopf? “Tut mir leid, sorry.” sagte sie mit einer gewissen Verlegenheit, darum bemüht dem Mädchen aufzuhelfen.

Mit einem Ruck wurde Mia wieder auf ihre Beine gezogen. Sie hatte noch immer Mühe damit zu verstehen, was gerade passiert war. “So ein Schlamassel!” Was war das für eine Wortwahl? Und dann noch dieser niederländische Akzent. “Kein Problem, ist ja nichts passiert” beruhigte Mia das aufgebrachte Mädchen. Als wäre das unabsichtlich Anrempeln einer Blinden eine Todsünde. Sie bekam nur ein verwirrten Laut zurück. Sie wusste noch immer nicht wer da vor ihr stand. Langsam beschlich sie das Gefühl, dass die Sorge nicht ihr galt.

Tillian zog die Saiten seiner Gitarre nach. Henni hatte sie verstimmt, als sie emotional und vor allem lautstark auf die Saiten schlug. “Ich fühl's sonst nicht” beharrte sie, und wenn sie einen guten Tag hatte, saß auch jeder dritte Ton.
Für Tillian war sein Musikzimmer neben seinem Schlafraum ein persönliches Refugium, das er bei einer solch extrovertierten Mitbewohnerin auch dringend nötig hatte. Es wurde von Hendrikje mehr als Abstellraum benutzt und war das größte Provisorium, das man sich vorstellen konnte. Eierkartons waren mit Isolierband an die Wände geklebt. Für die krass überteuerten “Schaumstoffschalldämmerdinger” wollte er nicht sein Bafög verschleudern. Viel besser als die umher liegenden Decken, Sitzsäcke und Eierschachteln konnten sie den Schall auch nicht absorbieren. Ein Kachon wurde kurzerhand zum Hocker, ein Keyboard zur Ablagefläche von CDs, Kleidern, Lebkuchen und einer Vinylplatte, die mangels Plattenspieler zum Deko-Objekt erklärt wurde. Ein Mikrofon war an eine bewegliche Lampe geklemmt und ein Pop-Schutz daran gegaffert. Ein vernünftiger Ständer sprengte auch hier seine finanziellen Mittel. Ein Kabel baumelte, vermengt mit einem Kopfhörerkabel einem Verlängerungskabel und einem Kabel von dem niemand wusste, wozu genau es gehörte, in einem Kabelsalat vom Mikrofon zu einem Rechner, auf dessen Desktop sich unzählige Ordner mit Demos befanden, an denen Henni immer etwas auszusetzen hatte. Die eine Hälfte befand sie für zu schnulzig, die andere Hälfte für zu beliebig.

„Was ist das?“ Mia konnte die Geräusche von klirrendem Metall und klappernden Plastik nicht zuordnen.
„Ne Popcornmaschine… Das war eine Popcornmaschine.“
„Wo kriegt man denn sowas?“
„Kleinanzeigen.“ Hendrikje kaufte nichts neu, höchstens das Greenpeace-Jahresabo. Geld ausgeben war ein Unding, solange es Lebensmittel zu retten und Klamotten zu tauschen gab. Außerdem hatte Geld den Nachteil dafür arbeiten zu müssen und Zeit war das wertvollste Gut in Hendrikjes Leben.
„Sorry nochmal, ich hab dich gar nicht kommen sehen...“
„Ich dich auch nicht.“ Mia zog Charly wieder näher an sich ran.
„Wer bist du denn? Darf man sie streicheln?“

Völlig überrumpelt war Mia nicht in der Lage zu verneinen. Das verstieß zwar gegen ihre Prinzipien aber das tat alles in dieser scheiß Stadt. An Jenna hätte sie niemanden ran gelassen, aber bei Charly war das irgendwie ein anderes Gefühl. Gleichgültigkeit vielleicht.
„Ihn. Er heißt Charly. Wenn du so nett fragst, ja…“
Hendrikje ging auf die Knie. Sie hätte den Golden Retriever durchgeknuddelt, wäre das Geschirr nicht im Weg gewesen. Ein Hund war auch ihr geheimer Traum, aber zu viel sprach dagegen. „Ich bin übrigens Hendrikje.“
„Mia.“
„Mia…“ Hendrikje stand wieder auf. „Hilft es dir, wenn du mich anfassen darfst? Hab ich mal gehört.“
Am meisten half das Mädchen ihr damit, sie nicht wie einen Pflegefall zu behandeln. Es war zwar ein Vorteil einen haptischen Eindruck von seinem Gegenüber zu haben, aber sie konnte der Fremden doch jetzt unmöglich im Gesicht rum patschen.
“Nicht so schüchtern.” ermunterte sie das Mädchen. Wenn sie unbedingt wollte… Mia ertastete lange, lockige Haare. Hendrikje war groß und schlank, aber nicht dünn. Sie hatte eine selbstbewusste Körperhaltung und trug eine Brille mit schmalem Rahmen und großen runden Gläsern. Ihre Kleidung war weich und flauschig. Sie fühlte die Träger einer Latzhose und… Trug sie einen Poncho? Mia hätte gerne mehr ertastet, aber der Anstand verbot es.
„Magst du mit zu mir kommen? Auf den Schreck trinken wir erstmal einen Chai… Wir haben aber auch Kaffee.” Hendrikje wollte sich gerne weiter mit Mia unterhalten. Vielleicht machte sie sie etwas neugierig. Außerdem war Henni es ihr schuldig, nachdem was sie angestellt hatte und vielleicht spielte Charly auch eine Rolle dabei. 
Mias Verstand plädierte dagegen, aber das Angebot klang wirklich verlockend. Dieses Mädchen hatte irgendwas besonderes. Mia hakte sich bei der Fremden unter. Auch wenn sie nicht wusste wieso, fühlte sie sich sicher, als würde sie Hendrikje schon ewig kennen.

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