Kapitel 5 - Fische

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Warme Sonnenstrahlen trafen auf Mias Gesicht, wo sich, wie sie spürte, dünne Linien aus Salz, die Spuren getrockneter Tränen, abzeichneten. Warum sie geweint hatte wusste sie nicht mal mehr so genau. Wegen ihrer Eltern, Jenna oder wegen Hendrikjes letzter Worte? ”Meine Freundin.” Freundin-Freundin. Irgendwie tat es Mia weh Hendrikje so reden zu hören. Sie war nicht die Art von Mädchen, die eifersüchtig war schon gar nicht auf ein Mädchen, dass sie erst seit nicht einmal 24 Stunden kannte. Aber was war das dann für ein Gefühl, dass ihr so weh tat bei diesen Worten. Sie hatte sich doch wohl nicht ernsthaft in dieses Mädchen verliebt? Ihr wurde sofort die Absurdität dieses Gedankens klar. Mia hatte doch kein Interesse an Mädchen. Oder?

Luna starrte die Brücke herunter. Der Fluss war heute verhältnismäßig ruhig. Klar. Fast konnte man meinen einige Fische zu sehen, die sich durchs Wasser wanden. Irgendwie unbeschwert. Sorglos. Ein paar Blätter trieben vorbei, sonst hätte man meinen können die Zeit wäre stehengeblieben. Zeit, sei eine Erfindung des Menschen, hätte Hendrikje jetzt angefangen, aber ihre liebe Freundin war eine geschlagene halbe Stunde zu spät. Typisch, doch dieses Mal konnte Luna es der Chaotin nicht übel nehmen, auch sie hatte die Zeit vergessen. Davon würde nie jemand etwas erfahren.
Sie fragte sich wie viele Meter es wohl zum Wasser waren. Sieben mindestens, vielleicht zehn. Immer wieder hörte man von Menschen, die dort unten ertranken. Geschichten, mehr nicht, die sie sich als Kinder erzählten. Über diese Unfälle gaben die Zeitungen nur wenige Informationen preis. Möglicherweise wegen des Werther-Effekts? Wenn von hier aus jemand springen würde, ja würde er oder sie es überleben? Diese Gedankengänge führten das blonde, besommersprosste Mädchen in ein Tal des Unbehagens, trotzdem konnte sie nicht anders als sie zu Ende zu denken.
Selbst wenn sich hier jemand das Leben nehmen sollte, könnte sie es nicht verhindern. Das stünde nicht in ihrer Macht, wie so vieles. Sie hatte ständig das Gefühl die Welt retten zu müssen. In solchen Momenten fühlte sie sich selbst ganz klein. Ein kleiner Schmetterling, der mit einem beherzten Flügelschlag die Welt veränderte. Sie musste lachen. Manchmal war sie vielleicht theatralisch.

Mia wusste nicht, wohin Hendrikje sie geführt hatte. “Ich stell dir wen vor.” sagte sie nur. Eine ruhigere Gegend, wo es hin und wieder nach frisch gemähtem Rasen roch, wo Fahrradklingeln das Klangbild bestimmten, anstelle von lärmendem Verkehr. Eine Idylle, ähnlich wie bei ihrem Haus, aber doch anders. Sie gingen doch wohl nicht etwa zu dieser Adriane? Nach einiger Zeit ließen die beiden die letzten Häuser hinter sich und auch der Straßenboden verwandelte sich mit der Zeit mehr zu einem Wirtschaftsweg. Hendrikje führte Mia über geschotterten Grund, der leider etwas rutschig war. Kies oder Erde konnte sie weniger leiden als asphaltierte oder gepflasterte Flächen. Sie waren fest, solide und durch ihre regelmäßigen Fugen sehr absehbar. Ihr Weg hingegen glich einem Trekkingpfad. Was hatten Sie hier verloren? Hendrikje führte sie seelenruhig weiter. Das Plätschern eines Flusses kam näher und wurde langsam zu einem Rauschen. Wahrscheinlich war etwas Flussabwärts ein Weer. Der Klang hatte etwas aufwühlendes aber so gleich beruhigendes. Ambivalent irgendwie. 
“Henni!” Der Ruf kam aus Richtung des Gewässers. Die Sprecherin hatte einen warme Stimmfarbe. Sie stand auf einer Holzbrücke. Die festen Planken unter Mias Füßen waren eine willkommene Abwechslung zum matschigen Erdboden und trotzdem respekteinflößend. Der Fluss befand sich nun genau unter ihr, viele Meter tiefer. “Darf ich dir wen vorstellen?” Die beiden Mädchen umarmten sich scheinbar. “Das ist Luna, das ist Mia.” Mia spürte, wie Luna ihr die Hand entgegen streckte. Etwas unbeholfen griff Mia danach, Luna verstand offenbar. Es war nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein, dass so etwas passierte. Trotzdem wusste Mia nicht recht, was sie tun sollte. Sie wusste weder wer Luna war, noch was sie mit ihr zu tun haben sollte, auch wenn sie einen sympathischen Eindruck machte. Mia hätte sich am liebsten hinter Hendrikje versteckt wie ein Kind hinter seiner Mutter. Hendrikje war vielleicht geheimnisvoll.

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