Kapitel 6

148 14 0
                                    

Lange Zeit saß ich Abends noch da und dachte über das, was passiert war nach. Erinnerungen der letzten Tage kamen in mir hoch und ich zweifelte langsam daran, dass es einen liebevollen und einen kaltherzigen Mann gab, denn wenn ich mich an die ersten Versuche der Näherung erinnerte, musste ich feststellen, dass der Mann anfangs noch harmlos schien und erst danach zum aggressiven Teil überstieg. Ich blickte durch die ganze Sache nicht mehr durch. Ich wollte einfach hier raus, endlich noch mal an die frische Luft, spazieren oder laufen gehen, mit Freundinnen in der Stadt herumalbern. Sollte das alles hier denn kein Ende mehr nehmen? Ich würde das keine fünf Tage mehr aushalten. Einfach diese Unberechenbarkeit in den Köpfen zweier Menschen, welche ich nicht verstand. Stellte ich mich einfach nur blöd, oder war es wirklich  so unfassbar? Ich kam aus dieser engen Gasse in meinem Kopf nicht mehr raus. Die Gedanken drehten sich doppelt und dreifach. In den Nachrichten sahen solche Situationen schon schrecklich aus, doch jetzt erlebte ich das eiskalt selber, unglaublich, wirklich. Der seelische Schmerz zereißt einen in tausende Stücke, bis ich einen spitzen Draht fand, welcher in der Ecke hinter meiner Matratze lag. Ich fing an mich zu ritzen. Ich fing an Muster in meine Haut zu stechen. Muster, welche mir etwas bedeuteten. Meine Arme waren mit Narben bedeckt, Narben die ich nie mehr loswerden würde. Narben, die ich bis heute mit mir herumtrage, welche mir aber geholfen haben, über den seelischen Schmerz hinweg zukommen. Es hört sich krank an, doch es ist wahr. Wenn ein Mensch sich körperlichen Schmerz zufügt,  unterdrückt es den seelischen. Allerdings nur in dem Moment, in dem man sich den Schmerz antut. Sobald man aufhört geht es weiter, die Angst tobt weiter in deinem Körper. Ich begriff sehr schnell, dass es nicht die richtige Lösung war, doch einmal angefangen und du kannst nicht mehr aufhören. Ich musste nach zwei Tagen schon den Platz suchen, wo ich mich noch hätte ritzen können. Ich fing an, Narben wieder blutig zu stechen. Der Schmerz wurde immer weniger, man gewöhnte sich mit der Zeit daran. Innerlich zerfleischten mich die düsteren Gedanken allerdings trotzdem, das musste ich mir eingestehen. Ich dachte oft an meine Familie. An meine Eltern und meine kleine Schwester. Erst wenn man etwas weggenommen bekommt, merkt man, wie wichtig es einem doch ist. So oft hatte ich über meine Eltern, oder meine Schwester geschimpft, zu Unrecht. Wie konnte ich manchmal so kalt gewesen sein?! Erst jetzt wurde mir der Spruch, welchen meine Mutter oft sagte, klar. "Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann ist glücklich." Ich war immer so kaltherzig. Nie ließ ich jemanden an mich ran, außer meiner besten Freundin. Ich wollte es ja nichtmal versuchen zu lieben und durch Liebe glücklich zu sein. Ich war wie ein Stein, der einfach nur im Weg rumlag und anderen das Leben schwer machte. Mit diesem Erscheinen lebte ich schon 15 Jahre lang. Wie hat meine Familie das bloß ausgehalten? Ob sie meine Schwester lieber hatten als mich? Vielleicht haben sie ja schonmal darüber nachgedacht mich in eine andere Familie zu stecken, um zu gucken ob ich dort besser klarkäme. Könnte das nicht alles sein? Diese verdammte Ungewissheit! Dieses verdammte schwarze Loch in mir, das mich zerstückelte wie ein Messer, das immer und immer wieder auf mich einstechen würde. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich konnte nicht mehr und ich wollte nicht mehr!

Mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt