Kapitel 2

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Ich betrat den Flur der Schule und bereute es sofort. Hätte ich nicht daheim in meinem Bett bleiben können? Meine Mutter hätte mich wahrscheinlich verstanden, aber mein Vater war der vollen Überzeugung, dass ich Größe zeigen musste, da ich unschuldig war. So dachte zumindest er. Die Leute hier vor mir nicht. Ich zog meinen Kopf ein und bahnte mir einen Weg zu meinem Spint, um meine Schulbücher reinzustopfen. An unserer Schule kannte jeder jeden, da sie einfach viel zu klein war. Für viele war das eine tolle Vorstellung, dass wir hier wie eine Familie waren...für manche war es aber die Hölle. So für mich gerade. Was sollte ich nur ohne Aileen machen? Ohne meine bessere Hälfte, die ihren Spint neben mir hatte und mich jeden früh auf den neusten Stand brachte, was über das Wochenende passiert war. An ihrem Spind klebte ein Bild von ihr und einige Karten hingen daneben. Du wirst vermisst. Und die Schuldige steht genau daneben. Ich seufzte und lehnte meine Stirn gegen meinen Spint. Vielleicht sollte ich einfach auswandern. Das wäre wahrscheinlich das Beste. ,,Was bist du denn für ein Trauerkloß?", fragte plötzlich jemand neben mir und ich drehte mich nicht mal um. War das jetzt ein schlechter Scherz? Wollte mich jemand damit ärgern? ,,Lass mich einfach in Ruhe", meinte ich und lehnte mich etwas zurück, um mich weiter meinen Schulbüchern zu widmen.  Ein extrem süßer Geruch stieg mir in die Nase, als der Junge neben mir plötzlich zu Aileens Spint ging und einen Schlüssel raus holte. ,,Oh. Anscheinend sollte ich mir einen andere Spintnummer holen...das wäre unangebracht, glaube ich", sagte der Junge und ich drehte mich diesmal zu ihm um. Eigentlich hatte ich vor ihm die Meinung zu sagen, aber das blieb mir der Satz im Hals stecken. Der war neu hier. 

Seine Haare waren wasserstoffblond gefärbt und er hatte ein schwarzes Bandana um seine Stirn gebunden. Sein Klamottenstil war schlicht und einfach. Ein weißes extrem großes T-Shirt und eine schwarze Hose, welche eine Kette an der Tasche hatte. Der hatte mehr Style als die ganze Schule zusammen. Seine hellblauen Augen musterten mich fragend und ich sammelte mich wieder. ,,Ja wäre es. Aber Spinte sind hier Mangelware. Du kannst dein Zeug auch erstmal bei mir rein tuen...bis etwas Zeit vergangen ist", meinte ich und ging einen Schritt zur Seite, um ihn Zugang zu meinem Spint zu geben. Er war neu hier. Also konnte man ja wenigstens nett sein, auch wenn sein Parfüm ekelhaft in meiner Nase brannte. ,,Das ist aber nett. Was ist denn mit dem Mädchen passiert?", fragte er, während er sein Schulzeug in meinen Spint packte. ,,Sie ist gestorben. Bist du neu hier hergezogen?", stellte ich eine Gegenfrage und musterte seine lackierten schwarzen Nägel skeptisch. Der konnte das ja besser als ich. ,,So in etwa. Hier ist auf alle Fälle weniger los als in New York", meinte er schmunzelnd und schulterte wieder seinen Rucksack. ,,Du kommst von New York?", fragte ich überrascht und er kratzte sich am Hinterkopf. ,,Ja. Davor war ich in Los Angeles, San Franzisco...London, Berlin. Ich war überall mal", meinte er und ich schloss meinen Spint. ,,Da bist du ja richtig in der Welt rumgekommen...und das schaffst du alles mit der Schule?", fragte ich und er seufzte amüsiert. ,,Du stellst ganz schön viele Fragen", konterte er und ich zuckte mit meinen Schultern. Es kam nicht oft vor, dass man neue Gesichter in Dakerlane sah...und wenn blieben sie nicht lang. Wer wollte hier schon lang bleiben. Aileen und ich hatten immer davon geträumt zum Studieren weit weg zuziehen und in einer Großstadt unser Leben zu genießen.  ,,Ich hab mich glaube noch gar nicht vorgestellt, ich bin Spencer" meinte er und streckte mir eine seiner Hände hin, welche ich mit einem gezwungenen Lächeln ergriff. ,,Ich bin Sawyer." Seine Hände waren weich und kalt. Na gut meine Hände waren sicherlich auch nicht wärmer, da es seit gestern wieder regnete...ununterbrochen. 

Meine Schritte halten von den kahlen Wänden wieder. Der Flur war im halbdunklen, da die dichten Regenwolken die Sonne verdeckten und die Deckenlampen, waren in viel zu großen Abständen angeordnet, dass man zwischen Schatten und Lichtkegel wechselte. Kein Wunder, dass Krankenhäuser gerne mal als Schauplatz von Horrorfilmen genutzt wurden. Ich klopfte zaghaft an die Tür, an welcher das Namenschild I. Murphy hing. Dank der netten Empfangsdame wusste ich, dass der Arzt, der mich behandelt hatte mit Nachnamen Murphy hieß, wenigstens ein kleiner Fortschritt. Die Tür ging auf und Doktor Murphy lächelte mich breit an. ,,Bei dem Wetter hatte ich wirklich erwartet, dass du nicht kommst", sagte er und ging einen Schritt zur Seite, dass ich eintreten konnte. ,,Ach das Wetter ist normal für Dakerline. Daran müssen sie sich wirklich gewöhnen, wenn sie länger hierblieben wollen", meinte ich und sah mich in seinem kleinen Büro um. Naja wirklich ein Büro war es nicht, eher ein Labor. An der Wand standen mehrere Schränke, in welchen komische Substanzen und Gläschen waren, daneben Poster von der Anatomie des menschlichen Körpers. Die Rollläden der Fenster waren zugezogen, damit man die Röntgenaufnahmen an der gegenüberliegenden Wand besser erkennen konnte. Die Röntgenaufnahmen zeigten einen Trümmerhaufen von Knochen...wenn man das überhaupt noch Knochen nennen konnte. ,,Anscheinend ist hier alles anders, als irgendwo anders auf der Welt", meinte er und schloss die Tür hinter mir. Dann sah er mir zu wie ich seinen Raum inspizierte. Als ich seinen Blick merkte, zog ich meine Regenjacke aus und hängte sie über eine Stuhllehne. Dann trat ich näher an die Röntgenaufnahmen. Mehrere Rippen waren an einigen Stellen gebrochen und die Wirbelsäule sah deformiert aus. Auch das Schlüsselbein war pulverisiert. Aua.

,,Das sind die Aufnahmen, die ich kurz nach deinem Unfall aufgenommen habe. Ich weiß, sie sehen schrecklich aus, aber nur halb so schlimm im Vergleich zu dem Unfall an sich. Ich kann nur nochmal erwähnen, dass es fast unmöglich ist, dass du überlebt hast", meinte Murphy und trat neben mich. ,,Aber ich habe es. Wie?", fragte ich sofort. Ob ich die Antwort wirklich wissen wollte, war mir zu dem Zeitpunkt nicht klar gewesen. ,,Kennst du die Legenden von dieser Kleinstadt? Legenden über die Wesen der Nacht?", fragte Murphy und ich sah zu ihm, wobei meine Augenbraue nach oben zuckte. ,,Das ist jetzt nicht ihr Ernst. Die Geschichten wurden mir damals als Gutenachtgeschichten erzählt. Was hat das jetzt mit mir zutun?" Murphy seufzte und lehnte sich an den Tisch hinter sich. Wollte er mich verarschen? ,,Sawyer, die heimischen Familien besitzen ein ganz besonderes Gen, was von Generation zu Generation weiter vererbt wird. Das Gen schlummert in jedem, dessen Familie schon zu den Gründerfamilien zählte. Bei manchen kommt es zum Vorschein, andere kennen es nicht mal bis zu ihrem Tod. Doch wenn es einmal ausgelöst wurde...dann kann man es nicht rückgängig machen", fing er an und steckte seine Hände in seine Hosentasche. ,,Hör mir zu, bevor du ausrastet oder mich für verrückt erklärst. Durch Aileens Tod, der indirekt durch deine Hand passiert ist, wurde dein Gen ausgelöst. Es hat siebzehn Jahre in dir geschlummert, jetzt ist es ausgelöst wurden. Du riechst besser als vorher, hab ich recht? Du heilst schneller, als jeder andere und bald werden noch mehr Eigenschaften hinzu kommen. Dein Körper wird sich verändern können. Wie alle deine Ahnen vor dir. Du bist ab nun ein Werwolf, Sawyer."

Dakerline - Im Bann des FluchesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt