𝒇𝒊𝒗𝒆

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Nokturngasse.

Es stank nach einer Mischung aus verfaultem Fisch und Minze aus einem Zaubertränkzutatenladen; irgendwo miaute eine Katze und in den dunklen Ritzen der Straße jagten sich Ratten.

Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, als er eilig über das unebene Kopfsteinpflaster lief, die schwarze Mütze tief in die Stirn gezogen.

Vielsaftrank wäre die sichere Alternative gewesen.

Oh, aber wo blieb der Spaß, wenn er nicht auf Risiko spielte?

Eine Hexe mit glockengroßen Furunkeln kreuzte seinen Weg.

Sie hatte die streichholzdünnen Arme um sich selbst geschlungen und ihre ausgebleichte, violette Strickweste wehte im Wind, während sie Gebete zu murmeln schien.

Die Gestalten, die hier herumhuschten, wurden auch immer schräger.

Und seine hellblonden Haare, die Harry so liebte, begannen hier wirklich aufzufallen und er war dankbar für die Mütze.

Oder geliebt hatte?

‚Keine Gedanken mehr an Harry', beschwor er sich selbst.

Warum auch?

Er hätte wetten mögen, dass sein Name nicht ein einziges Mal in den letzten Tagen in Harrys Gedanken aufgetaucht war.

„Hey Kleiner, du siehst so verloren aus... Willst'e einen Teller heißer Rattensuppe mit mir essen gehen?", schalte die heisere Stimme, die wie die eines jahrelangen Kettenrauchers klang, eines alten, zahnlosen Mannes zu ihm herüber, der ihn von der anderen Straßenseite aus anstarrte.

„Nein. Keine Zeit"

Seine Antwort war kurzangebunden, als er hastig in die nächste Seitengasse abbog und gegen die Wand gelehnt stehen blieb.

Sein Atem ging schnell, sein Herz pochte.

Der Mann auf der anderen Seite drehte sich verdutzt im Kreis und schwankte dann.

Ob er einfach nur sturzbetrunken war?

Die dunklen Flecken auf seinem karierten Hemd sprachen dafür und die blutunterlaufenen Augen für eine Regelmäßigkeit.

Fast da.

Wie um sicher zu gehen, dass sich der violette Samtbeutel nicht in Luft aufgelöst hatte, schoss seine Hand in die linke Manteltasche und umklammerte ihn wie einen Anker.

Alles war gut.

Das hier würde bald vorbei sein.

Nur noch elf Tage.

Er hatte es fast geschafft.

Er lehnte den Kopf kurz gegen die kalte Mauer, um die stechenden Schmerzen zu beruhigen, die seine Schläfe durchzuckten, lange hielt er es aber nicht aus.

Was vor allem daran lag, dass der stechende Geruch von Erbrochenem zu ihm herüber zu wabern begann.

Eine alte Zeitung, die auch schon einmal bessere Tage gesehen hatte, wenn man bedachte, wie zerfleddert sie war, wurde vom Wind über das dreckige Kopfsteinpflaster vor ihm gezogen.

Als wäre der Leser genervt, blätterte der Wind die Zeitung schnell durch.

Kurz bevor sie zwei Meter von ihm entfernt zum Liegen kam, schlug es die Seite mit den Schlagzeilen auf.

„Hermine Granger – tot!", konnte man trotz der vielen zerknitterten Stellen und Wasserflecken noch deutlich lesen und innerhalb von drei Sekunden wurde ihm schlecht.

Und jetzt regnete es auch noch.

Große Tropfen, wie Tränen.

Wie Harrys Tränen, die er nie um ihn, aber immer für Hermine geweint hätte.

Vermutlich war Harrys Verhalten verständlich.

Ihr Tod war vielleicht nicht direkt seine Schuld (Oder etwa doch? Die kleine Weasley hatte ihm oft genug zu verstehen gegeben, dass es so war. Und sogar Lovegood würdigte ihn keines Blickes mehr), aber er war der lebende Beweis, der Körper, der die Erinnerungen jeden Tag wieder aufleben ließ, weil der Schatten des Manors an ihm klebte, wie der Duft von Harrys Rasierwasser.

Oh wunderbar.

Zweites Mal innerhalb von einer Minute.

Glückwunsch.

Er hielt den Kopf gesenkt, als er seinen Weg über das unebene Pflaster fortsetze, ängstlich, weil er nicht mehr wusste, ob das Regentropfen oder Tränen auf seinen Wangen waren.

𝕥𝕙𝕖 𝕝𝕒𝕤𝕥 𝕕𝕒𝕟𝕔𝕖Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt