(Un)Aufmerksam

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Niemals hätte Claire auch nur daran gedacht, dass ihr ihre perfektionistische Ader einmal zugute kommen würde.
Geschweige denn, dass jemand sie liebgewinnen könnte.
Wie ein einziges Detail sie aus der Bahn wirft und sie den Blick für das Wesentliche verliert.
Wie eine Frau die Zeichen schon früh liest und der Zukunft eine Richtung gibt.
Wie ein Junge auf sie aufmerksam wird.

o6|11|2020
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Ein Morgen wie jeder andere auch.
Dachte ich zumindest.

Nervtötend bekämpften die Foofighters meine träumerische Kulisse, die darauf innerhalb weniger Sekunden von der Dunkelheit meines Zimmers erfasst wurde.

Ich wollte noch gar nicht aufstehen.
Und meinen Weckerklingelton sollte ich auch gleich ändern, Marigold's Glanz war schon vergangen.
Das Lied konnte ich inzwischen nicht mehr hören.
Ja, ich war ein Morgenmuffel, aber diese Erkenntnis bestärkte mich auch nicht darin, mich aus der kuscheligen Deckenschicht zu schälen und mich in meine eisige Jeans und die enge Bluse meiner Schuluniform zu zwängen.

Das waren wirklich gute Aussichten für einen wirklich miesen Tag.
Doch mitten in meinem Selbstmitleid machte sich ein dumpfes Gefühl in meinem Bauch breit.
Irgendwas würde heute noch passieren, und sei es nur, dass mein dämlicher Hang zur Perfektion mich auf ein Neues in die Bredouille bringen würde.

Resigniert begann ich innerlich einen Countdown zu zuzählen. Mit jeder Sekunde spürte ich förmlich die Kälte meine Füße hochkriechen.
3... in meinem Nacken.
2... eine Gänsehaut verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf meiner blassen Haut aus.
1... die Härchen stellten sich schon auf.

0...

Mit einer ruckartigen Bewegung zerrte ich den Haufen von Wärme von mir und stöhnte auf.
Es war noch so viel kälter, als ich befürchtet hatte. Trotz allem straffte ich die Schultern und trottete ins Badezimmer - noch hatte ich es für mich, denn meine Eltern schliefen noch - wo ich mir mechanisch die Zähne putzte, geistlich noch nicht ganz anwesend. Anschließend begann ich meine Haare in sechs Strähnen zu unterteilen und daraus zwei Zöpfe zu flechten. Und, wie sollte es an diesem Tag auch anders sein, löste sich eine dicke Strähne aus meiner skandalösen Verknotung aus Haaren, die einst dazu bestimmt war, einmal eine wunderschön geflochtene Frisur zu werden. Keine Sekunde lang zog ich es in Erwägung, mich so in die Öffentlichkeit zu wagen. Das wäre zu peinlich. Ja, ich war perfektionistisch, aber jeder vernünftige Mensch, der dieses undefinierbare Etwas jemals zu Gesicht bekommen würde, könnte keinen Unterschied zu dem herstellen, was ein Falke wieder auswürgte, nachdem er köstlich gespeist hatte. Nämlich ein Fellknäul.

Augenverdrehend bemühte ich mich, das Haargummi aus den Fängen meiner Haare zu befreien. Ein Knoten mit einem Durchmesser von mindestens einem Zentimeter zierte mein blaues Haargummi. Na wunderbar. Zur Schere greifen wollte ich jetzt nicht, meine Haare waren so schon kurz - gerade noch lang genug, um zwei mikroskopisch kleine Zöpfe daraus zu flechten.
Wieder begann die Melodie meines Weckers mich in Hochstimmung zu versetzen. Ich stellte immer drei Alarme, zur Sicherheit. Den ersten hatte ich bereits verschlafen.
Schon halb, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt hatte ich Zeitdruck.
Entweder mit Glatze zur Schule gehen, oder mit Mütze.

Letzteres schien mir die deutlich angenehmere Möglichkeit. So zückte ich meine rote Baskenmütze und verdeckte somit das Ungetüm auf meinem Kopf, schob jedes einzelne kurze braune Haar darunter.

Kurz kniff ich die Augen zusammen, griff nach meiner hellblauen faltenlosen Jeans und tauschte meine wohlig warme Pyjamahose aus.
Sogar ganz ohne zu jammern, dafür war jetzt keine Zeit mehr.
Schließlich wollte ich nicht auch noch den Bus verpassen, wodurch ich nur verspätet an der Schule angelangen und einen Auftritt in Französisch hinlegen würde. Meine Kopfbedeckung wäre dann die cerise auf der Sahnehaube, über die Madame Dosseau höchst erfreut wäre.
Rasch wechselte ich noch mein Oberteil und schlüpfte in gefütterte Boots. Meine Tasche hatte ich schon am Abend zuvor genaustens gerichtet. Ich vergaß niemals etwas, was mir auch einen gewissen Ruf bei meinen Lehrern verschaffte.

pars pro toto - eins für allesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt