Kapitel 17 - Panik

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Dafür, dass ich die Gefühle als schmerzlich empfand, tat mein Hintern deutlich mehr weh. Der ungemütliche Gepäckträger war nicht für eine dreißig Minuten Fahrt gedacht, weshalb ich erleichtert aufatmete, als wir am Kindergarten ankamen. Ich verabschiedete mich rasch von meinen Freundinnen, während sie auch schon davon radelten, denn nicht nur ich hatte den Aufsatz verschlafen. Auch Nora hing hinterher und musste sich dransetzen, sobald sie zuhause war. Kathie musste zwar keinen Aufsatz schreiben, jedoch hatte sie morgen einen Überraschungstest, der keiner mehr war, da einer ihrer Klassenkammeraden in die Unterlagen des Lehrers geschnüffelt hatte. Sie zwinkerte mir zum Abschied zu und beide ließen mich zurück. Ich ging den kleinen Vorgarten entlang und betrat den Kindergarten, der noch einzelne Kinder beherbergte. Ich hatte jede einzelne Minute aufs genauste geplant. Erst würde ich Lilly schnappen und mit ihr auf schnellstem Wege nach Hause, dann würde ich zum Abendessen nur Brote schmieren, danach würde ich sie vor den Fernseher setzen und zum Schluss würde ich...

„Wie sie wurde schon abgeholt?!", stieß ich entsetzt zu der Erzieherin vor mir aus.

„Ja...", erwiderte sie und schaute mich verunsichert an. „Von ihrem Vater. Es dürfte bereits eine halbe Stunde her sein."

Jegliche Farbe glitt mir augenblicklich aus dem Gesicht und ich spürte den kalten Schweiß, der sich auf meiner Haut bildete. Wie erstarrt blickte ich die Erzieherin an und sah dabei durch sie hindurch.

„War das etwa... falsch?", fragte sie jetzt und auch ihr Ausdruck wich der Panik. Und wie das Falsch war! Mein Vater würde nicht vor heute Abend nach Hause kommen und vor allem käme er nie auf die Idee Lilly abzuholen. Meine Sicht schwand dahin, doch auch wenn ich nicht wusste wie, schaffte ich es weiterhin gerade stehen zu bleiben. Ich fokussierte meinen Blick auf die Frau vor mir. Sie war vielleicht gerade ein paar Jahre älter als ich. Außerdem hatte ich sie letzte Woche das erste Mal gesehen, auch wenn ich ihr kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie musste in der Zeit angefangen haben, als Lilly krank war. Ihre verunsicherten Augen in der sich bereits Tränen bildeten schauten mich gläsern an. Dabei hatte ich nicht einmal etwas gesagt. Ich räusperte mich, denn meine Kehle war staubtrocken geworden. Meiner Schwester könnte mittlerweile wer weiß was passiert sein.

„Äh... w-wie sah er aus?", harkte ich nach und starrte auf ihre bebende Unterlippe, während sie sprach.

„Er hatte dunkles Haar, war vielleicht mitte vierzig und es schien, als kannte ihre Schwester ihn auch...", brachte sie heraus, ohne in Tränen auszubrechen.

Vielleicht war es wirklich mein Vater. Ich versuchte mich zu beruhigen und wollte an dieser Hoffnung festhalten, egal wie klein sie war. Doch mein gesunder Menschenverstand schlug weiterhin Alarm. Er hätte es dir gesagt!

Erst als sich ein metallischer Geschmack in meinem Mund ausbreitete, merkte ich, dass ich auf meiner Lippe herumgekaut hatte und diese jetzt blutete. Hinter der Erzieherin tauchte Joyce auf. Sie hatte mir bereits als Kleinkind einiges beigebracht und nach mir war nun Lilly an der Reihe. Es brachte mir die alte Zeit zurück, sie täglich noch einmal zu sehen. Auch wenn sie mittlerweile einige Falten unter den Augen bekommen hatte.

„Was ist denn hier los?", fragte sie und als sie mich erblickte breitete sich ein Lächeln aus. „Ach hallo Charlotte! Bist du gekommen, um Lilly zu holen? Ist es denn schon so spät..." Joyce wischte ihre mit Farbe beschmutzten Hände an der Schürze ab und blickte auf die große Uhr im Eingangsbereich.

„Wenn du etwas Zeit mitbringst, werde ich sie eben suchen gehen. Ich habe sie nämlich seit einiger Zeit schon nicht mehr gesehen.", lachte sie munter. „Sie hat sich sicher nur wieder versteckt!"

Sie war schon dabei wieder kehrt zu machen, als die junge Erzieherin nun endgültig die Fassung verlor und anfing zu schluchzen. Es machte mich wütend sie so zu sehen. Sie hatte kein Recht Tränen zu vergießen. Nicht ihre Schwester liegt vielleicht irgendwo zerstückelt in einem Straßengraben!

Schluchzend erzählte sie Joyce, dass Lilly bereits abgeholt wurde und auch Joyce Gesicht verlor an Farbe. Doch so ruhig, wie ich, blieb sie nicht. Sie begann streng das Mädchen, die wie ich erfuhr, gerade einmal die Schule beendet hatte, zu belehren. Ich hingegen verabschiedete mich, denn noch mehr Zeit verschwenden wollte ich nicht. Die Hoffnung, dass meine Schwester sicher mit meinem Vater zuhause war, war klein, aber dennoch vorhanden. Joyce die mir hinterhergelaufen war, bestand darauf, dass ich sie augenblicklich anrufe, wenn Lilly nicht zuhause war. Ich nickte nur und ging ohne Umwege nach Hause. Dass ich beinahe angefahren wurde und der Fahrer sogar brüllend aus seinem Auto gestiegen war, ging an mir komplett vorbei. Wenn ich es nicht einmal schaffte meine Schwester zu schützen, dann verdiente ich nichts anderes als den Tod.

Als ich zuhause ankam, war von Pauls Auto keine Spur. Der Faden riss nun endgültig und ich stürmte ins Haus. Ich durchsuchte jede Nische, jede Ecke, in der sie sein konnte. Doch es blieb still und dunkel. Ich hatte nicht einmal die Kraft in Tränen auszubrechen, stattdessen sank ich zu Boden und blieb dort sitzen. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich auf dem kalten Boden hockte, doch das Ticken der Standuhr beruhigte den Raum und auch mich, sodass ich wieder klare Gedanken fassen konnte. Ich erhob mich von dem Fußboden, ging in die Küche und wählte Pauls Nummer, die auf einem Zettel am Kühlschrank hing. Da er auch beim nächsten Versuch nicht abnahm, wurde ich wieder nervös. Statt es noch ein weiteres Mal zu versuchen, wählte ich stattdessen 112. Doch sie konnten mir nicht helfen, da sie gerade einmal eine Stunde vermisst wurde und die letzte Person sie mit ihrem Vater gesehen hatte. Ich bereute es ihnen diese Information gegeben zu haben. Vielleicht hätten sie sonst etwas getan. Um mich irgendwie abzulenken, begann ich zu kochen und saß am Ende sogar alleine am Küchentisch, da noch immer niemand aufgetaucht war. Als die Dämmerung hereinbrach, hielt ich es in dem leeren Haus nicht mehr aus. Ein letztes Mal versuchte ich vergebens Paul zu erreichen, dann setzte ich mich in Bewegung. Egal wie lange es dauern würde, ich würde meine Schwester finden.

Charlotte - tödliches VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt