Kapitel 33 - Freiheit

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Ich leckte gerade über die Bisswunde im Fleisch des Tieres, als sich der Nebelschleier in meinem Kopf löste und ich wieder klar denken konnte. So schnell wie möglich rückte ich von dem regungslosen Körper weg, der halb unter mir lag. Geschockt starrte ich auf das Reh am Boden, welches keinen Funken Leben mehr in sich trug. Was zur Hölle war gerade passiert?

„Oh mein Gott!", rief ich in einem Schluchzen aus. Ich habe es getötet!

Ich riss meinen Blick von dem toten Körper weg und fixierte meine Hände, die von Dreck und Blut bedeckt waren. Zitternd strich ich mir mit dem Ärmel meiner Jacke über den noch feuchten Mund und das Kinn, was eine blutige Spur auf dem Stoff zurückließ. Panik ergriff mich.

„Ich bin ein Monster...", stammelte ich und griff mir fest in meine Haare, wodurch ich mir einzelne Haare herausriss. Wie eine gestörte lachte ich auf und konnte die Tränen, die über meine Wangen rollten, nicht stoppen. Sie lösten sich einfach und bahnten sich ihren Weg.

Ein fucking Monster! rief ich in meinen Gedanken.

Ich habe das Blut eines Tieres getrunken und es hat mir geschmeckt! Am liebsten würde ich mich übergeben und so sehr ich mich auch ekelte, weigerte sich mein Körper die rote Flüssigkeit her zu geben. Ich war auf dem Boden zusammengesackt und konnte nur zitternd meinen Oberkörper aufrecht halten. Dann setzten sich die Puzzleteile endlich zusammen und mir kam der eine Gedanke, den ich für Einbildung gehalten hatte. Die Nacht nach dem Frühlingsball... Mich hatte Jemand gebissen. War ich jetzt wie diese Person? Ein blutsaugendes Monster? Aber es gab keine Vampire! Das waren nur Märchen. Geschichten aus Büchern und Filmen, um Einem Angst zu machen. Es klang zu lächerlich, als dass es wirklich wahr sein konnte. Aber...

Ein Knacken ließ mich aufschrecken und auf die Beine springen. Man durfte mich hier nicht so finden. Ohne mich umzusehen, sprintete ich los und war in wenigen Sekunden so schnell, dass meine Umgebung um mich herum verschwamm und die Bäume als grüne und braune Farbschlingen an mir vorbeizogen. Auch wenn ich immer weniger sehen konnte, ignorierte ich es und lief einfach weiter. Egal wie unmenschlich sich mein Körper gerade verhielt, musste ich weiterlaufen. Als ich an einem kleinen Bachlauf ankam, stürzte ich vor ihm auf die Knie und versuchte schwer atmend zu verarbeiten was gerade passiert war. Währenddessen starrte ich auf mein Spiegelbild, welches mich aus dem fließenden Wasser heraus anblickte und verurteilte. An meinem Mund klebte noch immer Blut, welches jedoch bereits getrocknet an meiner Haut pappte. Der Schock saß tief in meinen Knochen und auch meine grünblauen Augen waren stark geweitet und zeigten jegliche Gefühlsregung in ihnen. Ich wollte nicht noch länger in diese von Vorurteilen strotzenden Augen schauen, weshalb ich meine Hände mit zu viel Kraft auf die Wasseroberfläche haute, und anfing zu schrubben. Das kühle Nass trug den Dreck und das Blut in kleinen Schlieren von meiner Hand weg, jedoch blieb das Gefühl zurück. Nachträglich begann ich wild mein Gesicht von dem Schweiß und restlichen Blut zu befreien, bevor ich mich an meine Jacke machte. Als sich das Wasser wieder beruhigte und ich mich endlich darin wieder erkannte atmete ich tief ein und aus, denn meine Augen schauten mir noch immer voller Unglaube entgegen. Sie riefen das aus, was ich dachte und fühlte: Monster.

„Scheiße...", flüsterte ich und seufzte schwer. „Warum ausgerechnet ich?"

Ja, warum eigentlich...

Während ich mein Spiegelbild betrachtete, glitt meine Zunge beinahe unbewusst über meine Zähne und suchten etwas, das nicht vorhanden war. Doch um auf Nummer sicher zu gehen, öffnete ich meinen Mund einen Spalt und betrachtete meine Eckzähne, die vollkommen natürlich aussahen. Umso länger ich sie jedoch anstarrte, umso spitzer wirkten sie.

Vielleicht hatten sie sich ja doch verändert... Blödsinn.

Kopfschüttelnd stand ich auf. Alles Blödsinn. Mein Körper veränderte sich und ich könnte es sowieso nicht aufhalten oder ändern. Jedoch kann ich entscheiden, wie ich damit umgehe und wenn es bedeutet, dass ich kein Blut trinken werde, vor allem nicht das von einem Menschen, dann war es so. Solange ich bei dem versuch nicht drauf ging und selbst wenn, wäre ein Monster weniger auf der Erde. Doch zuvor wollte ich die Person aufhalten, die mir all das angetan hatte.

Keine Vierundzwanzig Stunden später stand ich an der Stelle, an der ich das tote Reh zurückgelassen hatte. Vorsorglich hatte ich einen schwarzen Kapuzenpullover mit zur Schule genommen und mir die Kapuze, um meine Identität zu verschleiern, tief ins Gesicht gezogen. Denn denselben Fehler wie gestern würde ich nicht noch einmal machen. Außerdem wollte ich bewusst testen, wie sich mein Körper verändert hatte und dabei sollte mich nun wirklich keiner erkennen. Ich musterte die Stelle am Boden, an der eigentlich das Fellbündel liegen sollte, doch neben dem wenigen Blut, dass im Boden versickert war und welches ich noch immer wittern konnte, deutete nichts mehr darauf hin, dass hier überhaupt mal etwas gestorben war. Ich rümpfte die Nase. Mir kam es so seltsam vor hier nichts vorzufinden. Hatte es jemand mitgenommen?

Auch wenn das eindeutig so aussah, entschied ich mich dazu an die einfachste Variante zu glauben: Es wurde gefressen. Denn neben den Rehen, Hasen, Vögeln und Füchsen, gab es auch größere Raubtiere in den Wäldern rund um Hillcord. Angeblich wurde auch schon einmal ein Braunbär gesichtet. Man sollte jedoch nicht alles glauben was man hört. Unterbewusst nagte mein Verstand an mir, denn ich war mir im Klaren darüber, dass sich kein Wolf oder gar ein Bär so nah an die Kleinstadt herantrauen würde, dafür gab es zu viele Jäger und Spaziergänger in dieser Gegend. Trotzdem wollte ich nicht darüber nachdenken, dass mich vermutlich jemand dabei beobachtet hatte, wie ich dem Reh jeglichen Tropfen Blut aus den Adern saugte. Daran konnte ich auch nichts mehr ändern.

Ich stieg über die Stelle hinweg und ging einige Minuten, um mich von dem Ort zu entfernen. Er bereitete mir ein schlechtes Gewissen. Als ich an einem umgefallenen Baum ankam, setzte ich mich auf den trockenen Stamm. Die Umgebung war perfekt. Hier könnte ich in Ruhe ausprobieren was ich konnte, doch erst einmal musste ich herausfinden, ob ich allein war und mich kein Kinder-entführender-Massenmörder beobachtete. Noch immer mit der Kapuze auf dem Kopf scannte ich das Gelände ab. Meine Sicht veränderte sich rein gar nicht. Ich konnte genauso weit sehen wie sonst und auch nichts unnatürlich anders wahrnehmen. Jedoch konnte ich auch niemanden sehen. Mein Mund kräuselte sich bei der leichten Enttäuschung, die ich verspürte, dann atmete ich langsam tief ein und aus, bevor ich schließlich die Augen schloss und mich vollends auf mein Gehör verließ. Auch hier veränderte sich zunächst nichts, doch so schnell wollte ich nicht aufgeben. Ich versuchte mich weiter zu konzentrieren und brachte meine Atmung in einen gleichmäßigen Rhythmus. Als würde mein Sinn neu geschrieben werden, lösten neue, klarere Geräusche mein altes Gehör ab. Das Rascheln der Blätter wurde lauter, während die Vögel klarer aus weiter Distanz sangen und die Rinde der Bäume gesund vor sich hin knackte. Ich vernahm das Summen des Wespenvolkes, welches ich zuvor nicht einmal wahrgenommen hatte und das Wuseln der Ameisen auf dem Boden. Selbst meinen Herzschlag und das Rauschen meines eigenen Blutes konnte ich klar hören und spüren, wie es durch meine Adern und Organe floss. Es war so ein gewaltiger Eindruck, dass meine Augen unter den Liedern wild zuckten und in die Richtung der Geräuschkulisse blickten. Als ich schlagartig meine Augen öffnete war ich wie in Trance. Noch immer nahm ich die starken Geräusche wahr und versuchte ihnen blinzelnd zu folgen. Als meine Konzentration jedoch verloren ging, klangen die intensiven Unruhen des Waldes ab und ließen mich mit meinem normalen Gehör zurück. Mir entwich ein Seufzen, welches wohl aus Enttäuschung und Erleichterung entstanden war. Konzentration war also das Ziel. Noch einmal versuchte ich meine Sehkraft zu verbessern und konzentrierte mich dieses Mal deutlich mehr, doch auch jetzt geschah nichts.

Gehör und Geruch hatten sich also verbessert, dachte ich und blickte auf meine Hände.

Ich wusste bereits, dass ich schnell laufen konnte, doch genau das jetzt bewusst noch einmal zu machen, ließ mein Herz höherschlagen. Ich ging einige Schritte von dem Baumstamm weg und blickte auf den geraden Pfad, der sich zwischen den Bäumen entlang teilte. Ein letztes Mal atmete ich tief aus und drückte mich dann ab. Ich rannte, wie ich zuvor noch nie gerannt war. Wild peitschte mir der Wind um die Ohren und während die Bäume um mich herum verschwammen, rannte und rannte ich immer weiter. Mein Herz pochte in meiner Brust, während ich die Geräusche und Düfte des Waldes in mir aufnahm. Noch bevor ich an dem Bachlauf ankam, hörte ich bereits das leise Plätschern des Wassers. Doch um rechtzeitig anzuhalten war ich viel zu schnell, weshalb ich mich kurz vor dem Wasser mit einem Satz abdrückte und über ihn herübersprang. Ich konnte mich gerade noch so fangen und stoppte dann energiegeladen hinter dem Bachlauf, auf einer kleinen Anhöhe. Mein ganzer Körper brannte vor Adrenalin und Ekstase, weshalb mir ein Freudenschrei entwischte, denn so frei hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt!

Charlotte - tödliches VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt