Die Haustüre fiel hinter mir ins Schloss, als ich die Stufen vor unserem Haus heruntersprang. Mein Fahrrad war an unsere Hauswand gelehnt, wobei ich zuerst einmal in unseren ungepflegten Vorgarten treten musste. Der morsche Holzzaun rahmte unser Grundstück gerade so ein, dass man wusste, welcher Teil zu uns gehörte und welcher zum Nachbarn. Doch auch ohne den Zaun würde man es sofort erkennen. Unser Garten war verwildert und selbst die Schaukel, die ich früher mit meinem Vater gemeinsam gebaut hatte und an einem Ast der alten Eiche hing, konnte man nicht mehr benutzen. Ich griff nach meinem Fahrrad und schloss es auf. Vorsichtig schob ich es die Einfahrt herunter und versuchte dabei nicht an das Auto meines Vaters zu kommen. Nachdem ich mich hinaufgeschwungen hatte, radelte ich die Straße entlang und lauschte dem Geräusch der Reifen auf nassem Asphalt. Trotz den Vögeln, die schon längst erwacht waren und freudig den neuen Tag begrüßten, war alles still. Die Häuser waren teilweise noch dunkel und die Straßenlaternen erleuchteten gerade einmal so die asphaltierte, mit Schlaglöchern ausgestattete Straße. Der Wendekreis vor unserem Haus, der das Ende des Schillerweg klar zeigte, wurde von den Kindern als riesige Spielfläche genutzt. Sobald die Sonne höher am Himmel stand, würde es hier nicht mehr so leer sein.
Am Ende der Straße angekommen, wartete Kathie bereits auf mich. Müde begrüßte sie mich und stieg wieder auf ihr Fahrrad. Als wir uns der Kreuzung näherten, an der Nora sonst immer auf uns wartete, runzelte ich die Stirn. Von ihr war weit und breit nichts zu sehen.
„Wo ist denn Nora?", fragte ich. Mein Fahrrad kam mit einem lauten Quietschen zum halt.
Kathie hob unwissend ihre Schultern. Sie blieb neben mir stehen und schaute mit mir in die breite Straße voller schöner Häuser. Wir warteten einige Minuten, aber als sie noch immer nicht auftauchte beschlossen wir schon einmal vorzufahren.
„Sie hat bestimmt einfach verschlafen.", schloss Kathie.
„Das würden ihre Eltern nicht zulassen, eher würden sie Nora selbst fahren, als dass sie einmal in ihrem Leben zu spät kommt."
Kathie rollte die Augen und nickte dann. „Vermutlich war sie einfach so früh dran, dass sie schon vorgefahren ist."
Die ersten beiden Stunden Deutsch hätten einsamer nicht sein können. Nora war nicht in der Klasse gewesen, dafür aber Caleb, der sogar pünktlich zum Unterricht erschien. Sein Sitzplatz war in der letzten Reihe und normalerweise saß niemand auch nur annähernd in seiner Gegend. Die meisten hatten Respekt oder auch einfach nur Angst vor ihm. Wobei ihm die abgedrehten Mädels wie Hündchen hinterherliefen. Als er die Klasse betrat, verstummten einige Gespräche. Während ihn viele beobachteten, trauten sich manche nicht ihn anzusehen. Die Angst, die sie ihm entgegenbrachten, war immerhin auch berechtigt. Es wäre nicht das erste Mal, dass er Jemandem eine reinhaute, nur weil er ihn angesehen hatte. Caleb schlenderte zu seinem Platz, doch statt an der Wand entlangzugehen, ging er durch meinen Gang. Ich senkte meine Augen wieder auf die Hausaufgaben vor mir und schenkte ihm keinen weiteren Blick. Als ich jedoch den Stuhl hinter mir hörte, blickte ich auf. Die Hoffnung Nora an ihrem Platz vorzufinden zerbrach. Caleb hatte sich auf ihrem Stuhl breit gemacht. Seine Springerstiefel waren auf ihrem Tisch abgelegt. Er wippte mit dem Stuhl, während er begann eine Zigarette zu drehen. Meine Augen verengten sich. Erst wollte ich mich wieder nach vorne drehen, aber etwas hinderte mich daran. Obwohl er die Zigarette drehte, schenkte er ihr nicht seine Aufmerksamkeit, stattdessen richtete er sie nur auf mich. Und das, ohne mich auch nur anzublicken.
„Ist etwas?", fragte er und jagte mir so einen kleinen Schrecken ein. Seine Stimme bebte bei jedem Wort. Meine Nackenhaare stellten sich auf und auch wenn ich für einen Moment zögerte, antwortete ich trotzdem.
„Da sitzt schon Jemand."
Nach wenigen Sekunden nahm er die Füße von Noras Tisch und starrte zurück. Seine Augenbrauen zogen tiefe Schatten durch seine braunen Augen.
„Ich sehe aber Niemanden.", gab er zurück. „Außerdem glaube ich nicht, dass sie heute noch kommt." Ein verschmitztes Grinsen zog sich durch sein Gesicht und er leckte zeitgleich über das Stück Papier. Mit wenigen Griffen klebte die Zigarette zusammen. Ein ungutes Gefühl machte such in meiner Magengegend breit.
„Was meinst du damit?", fragte ich kleinlaut und doch versuchte ich mit fester Stimme zu sprechen. Etwas in seinen Augen zuckte und sein Lächeln verschwand. Er spielte noch einen Moment mit der Zigarette, bevor er sie hinter sein Ohr klemmte. Mit einer raschen Bewegung seiner Hand wischte er den Dreck von der Tischkante und lehnte sich dann über den Tisch.
„Ich meine: Sie kam noch nie zu spät, oder?", flüsterte er. Sein Blick nahm den meinen intensiv ein und hielt ihn gefangen. Ich atmete erleichtert auf, als er sich abwandte, als Frau Auer den Raum betrat. Caleb lehnte sich zurück und hatte einen Ausdruck in seinem Gesicht, der mir Angst einjagte. Schön und gut er hatte ja recht, aber ihn so nah bei mir zu haben, stellte mir wortwörtlich die Nackenhaare auf. In meinem Hals hatte sich ein Kloss gebildet, der die restlichen Stunden bis zur Mittagspause nicht verschwand.
Der Aufenthaltsraum war gefüllt mit Schülern und Lehrern. Das Getümmel und Geschreie der jüngeren Schüler ließen einen gar nicht erst zur Ruhe kommen. Doch all das ließ mich kalt. Ich stützte mich mit dem Ellenbogen auf den Tisch ab und legte mein Kinn gelangweilt in meine Hand. Kathie und ich saßen am Fenster, vor mir das selbstgeschmierte Brot, welches ich noch kein Mal angerührt hatte.
„Vielleicht ist sie echt nur krank.", sagte Kathie.
„Ja vielleicht.", murmelte ich und setzte mich aufrecht hin. „Aber was ist, wenn ihr doch etwas passiert ist? Sonst hätte sie uns doch angerufen und ich hätte mir nicht solche Gedanken gemacht."
Kathie schmunzelte und griff nach einer Traube, die vor ihr in einer kleinen roten Dose lag. Sie bot mir eine an, aber ich lehnte nur kopfschüttelnd ab.
„Ja und wenn sie jetzt Migräne bekommen hat? Kann ja sein, dass es ihr heute Morgen einfach nicht gut ging."
Ich zog eine Augenbraue hoch und guckte sie an, als hätte sie einen dummen Scherz gemacht.
„Glaubst du wirklich?" Meine Stimme hätte nicht zweifelnder klingen können. „Sie saß schon einmal mit vierzig Grad Fieber im Unterricht, da wird sie nicht wegen ein bisschen Migräne zuhause bleiben."
„Außerdem würde es ihre Mutter nicht zulassen.", sagten wir beinahe beide im Einklang.
„Ich hoffe einfach, dass sie wirklich zuhause ist.", sagte ich und seufzte.
„Ihr soll einfach nichts zustoßen."
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und unterdrückte das ungute Gefühl, welches mich seit der Deutschstunde begleitete. Mir jagten immer wieder schaurige Gedanken durch den Kopf und auch wenn ich sie wegschob, kamen immer Neue, die an meiner Geduld nagten. Ich wollte nur wissen, dass es ihr gut ging. Wer weiß, was ihr eventuell zugestoßen ist. Als wenn ich mir keine Sorgen machen könnte, wir waren seit klein auf zusammen, da gab es nur uns und sonst niemanden.
Mein Blick streifte durch den Raum und beobachtete die einzelnen Leute, bevor er an Caleb hängen blieb. Er trug wieder seine Lederjacke, genauso wie seine Freunde, die ich gestern Abend schon gesehen hatte. Unter den ganzen normalen Schülern stachen sie deutlich hervor, doch das interessierte sie wohl kaum. Sie nahmen den großen Tisch komplett ein, sodass sich keine weitere Person zu ihnen setzen wollte. Dabei aßen sie nicht einmal, sondern standen nur genau daneben, wobei Caleb halb auf dem Tisch saß. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, wie auch er mich ansah. Sein intensiver Blick lag auf mir und jagte ein Kribbeln über meine Haut. Er... schaute so interessiert zu mir, dass ich meine Augen von ihm lösen musste. Doch ich spürte seinen Blick noch immer. Als ich erneut aufschaute, hatte er mich noch fest im Blick. Ich schluckte schwer. Er ließ sich von nichts ablenken, als allerdings Imogen plötzlich neben ihm auftauchte und etwas sagte, löste er endlich seine durchdringenden Augen. Erleichtert atmete ich durch. Als jedoch innerhalb weniger Sekunden alle vier herüberschauten, drehte ich mich ruckartig weg. Das brennende Gefühl von Augenpaaren, die auf mich gerichtet waren, drehte mir den Magen um.
Nein Danke. Wie konnte ich ihn nur so anstarren?
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Charlotte - tödliches Verlangen
VampireSeit dem Tod von Charlottes Mutter, ist ihr Leben auf den Kopf gestellt. Neben der Schule und dem Haushalt, kümmert sie sich noch um ihre kleine Schwester. Trotz der Verzweiflung, die sie manchmal überfällt, behält sie eine klare Fassade: so wenig G...